Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Vater, Mutter, Richard Ford
Wann sie sich kennenlernten, weiß er nicht genau. An einem Tag irgendwann vor 1928, vielleicht in Little Rock, vielleicht auch in Hot Springs. Er glaubt aber zu wissen, was Edna Atkins an diesem Tag an dem jungen Parker Ford aufgefallen sein muss. Ein Gesicht, das zum Lächeln neigte, die durchscheinenden blauen Augen. „Ein Mann, der gern glücklich war.“Er ist 24, sie 17 Jahre jung, sie verlieben sich, sie heiraten, er nimmt einen neuen Job an, verkauft als Vertreter Wäschestärke der Firma Faultless im Süden Amerikas, sie begleitet ihn. Ein Leben „on the road“, wenig Luxus, viel Liebe. Dann, nach Jahren, wird ein Kind geboren: Richard Ford.
Leben wie Tod bleiben oft unbemerkt, schreibt der amerikanische Schriftsteller im Nachwort seines Memoirs „Zwischen ihnen“, in dem er in einem Doppelporträt seinen Eltern noch einmal all seine Aufmerksamkeit schenkt. Mit großer Sanftheit nähert er sich diesen zwei Menschen, über die er als der einzige Sohn am meisten weiß, vieles auch nicht, sicher aber dies: dass sie „zusammen – vielleicht nur zusammen“erst richtig aufblühten. Ein Buch über Vater, Mutter und auch Kind – weil Ford in der Sehnsucht, den Eltern so nahezukommen wie möglich, seine eigene Verletzlichkeit offenbart. Das Porträt der Mutter entstand bald nach ihrem Tod 1981, das des früh verstorbenen Vaters 55 Jahre später. „Unser Leben in Jackson war kleinkalibrig“, schreibt Ford. Wie gerne man alles darüber liest! Richard Ford: Zwischen ihnen a. d. Englischen von Frank Heibert, Hanser, 144 Seiten, 18 Euro
Es gibt Bücher, die verzaubern ihre Leser. Sie verführen zum Weiterlesen und sind gleichzeitig aufgeladen mit Welt, mit Haltung und mit Aussagen. Ein solches Buch hat Zadie Smith mit „Swing Time“vorgelegt. Es ist der fünfte Roman der 41-Jährigen englischen Schriftstellerin, die langsam, aber sicher zu den großen Erzählerinnen der Gegenwart gezählt werden kann.
In „Swing Time“beschreibt Smith auf 620 Seiten die ungleichen Lebensgeschichten zweier Kindheitsfreundinnen und verfolgt deren Lebensweg über knapp 30 Jahre. Gleichzeitig führt die Schriftstellerin gekonnt in unterschiedliche Milieus ein: zu Beginn das Einwanderer-viertel in Londons Norden, ein Schmelztiegel der Probleme und ein Ort, an dem Kinderträume eigentlich nie in Erfüllung gehen. Es geht um zwei Mädchen, die sich anfreunden, und zwei Mütter, die sich nicht ausstehen können. Und später führt der Roman in das Jetset-leben eines Pop-weltstars namens Aimee ein, die wiederum stark an Madonna erinnert und mit ihrer Entourage heute eine Tournee und morgen die Verbesserung der Welt plant, gerade, wonach ihr der Sinn steht. Es taucht dieses Dorf in Afrika auf, in dem die Welt verbessert werden soll. Und dieses Afrika steckt der namenlosen Ich-erzählerin im Blut und auch wieder nicht. Es geht um Kinder, die zum Karriere-verhängnis werden, und gleichzeitig um Kinder, die einfach mal so adoptiert werden, weil sie zuckersüß lächeln. Im Hintergrund spürt man auch, wie sich der Islamismus in Afrika ausbreitet – als eines der wenigen Bildungsangebote dort.
Man könnte noch viel mehr aufzählen, von was dieser Roman noch alles handelt, das Wichtigste aber ist: All dies drängt sich nie auf, all dies bringt diese Freundschafts-geschichte, die Smith erzählt, nie zum Kippen.
Diese beginnt, als sich Tracey und die namenlose Erzählerin kennenlernen. „Wir hatten beide den identischen Braunton“, nur dass Traceys Vater schwarz war und bei der Ich-erzählerin die Mutter aus Jamaika kommt. Darauf folgen 100 packende Seiten über diese Mädchenfreundschaft. Beide tanzen, nur dass Tracey mehr Willen aufbringt und ein größeres Selbstbewusstsein an den Tag legt und die Ich-erzählerin, die wunderbar singen kann, durch so viel Talent und so viel Anmaßung völlig einnimmt. Sie bewundert Tracey, für ihre Unbeugsamkeit, ihre Wutausbrüche, ihre Eleganz und ihre Sicherheit in allem, ob das nun ein Urteil über die Stars aus ihren geliebten Musicalfilmen ist oder die Ansage, welches Spiel auf dem Kindergeburtstag bei den reichen Mittelstands-nachbarn gespielt werden muss.
Später, nach diesen ersten 100 Seiten aus dem Londoner Norden, verlieren sich die Wege von Tracey und der Erzählerin, nun spiegelt die Erzählung den Lauf des Lebens indirekt wider, weil das, was im Leben aufeinander folgt, oft nicht das ist, was zueinander gehört und sich aufeinander bezieht. Auf den weiteren 520 Seiten springt der Roman in den Zeitebenen. Tracey studiert Tanz, die Erzählerin Medienwissenschaft. Und während Tracey versucht, Karriere zu machen, schafft es die Mutter der Ich-erzählerin tatsächlich Berufspolitikerin zu werden. Ein Lebenstraum, der da in Erfüllung geht, aber an dem die Ich-erzählerin nicht teilhaben kann, weil die Mutter, die aus armen Verhältnissen kommt und sich alles Wissen erst spät als Erwachsene anlesen musste, weil diese Mutter immer bei ihrem Kampf gegen die Ungleichheit in der Welt ist und sich nie wirklich als Mutter konkreten Tochterproblemen widmet.
Später lernt die Ich-erzählerin den zweiten prägenden und alles dominierenden Menschen ihres Lebens kennen: Aimee, den Weltstar, der sie aus Instinkt heraus als persönliche Assistentin anstellt. Erst entfaltet diese Luxuswelt eine unglaubliche Pracht, die Erzählerin merkt nicht, wie sie aus ihrem Leben kippt, weil sie nach dem Studium noch nicht wirklich feste stabile Wurzeln gefasst hat. Nach Jahren dort spürt sie allerdings immer stärker, dass sie fast ausschließlich für einen anderen Menschen lebt, Tag und Nacht, mal in den USA, mal in Europa, irgendwann auch in Westafrika in dem Dorf, in dem Aimee mit einer Schule die Welt verbessern will.
„Wir hatten beide den identischen Braunton.“ „Swing Time“erzählt, wie es sich im Tross eines Stars lebt – ein Bildungsroman
Und das gibt „Swing Time“eben diesen Dreh, der dieses Buch zu einem modernen Bildungsroman macht. Die Ich-erzählerin hätte vielleicht auch das Zeug zu einer Künstlerin gehabt, einer sogar, die das eigene Ego nicht über alles andere stellt, wie das Tracey, Aimee und ihre Mutter Miriam machen. Aber die Ich-erzählerin hat nicht den Antrieb, dieser Begabung zu folgen. Zadie Smith beschreibt die Brüche im Leben, die nicht immer einer Logik folgen, und sie bettet die Charaktere gleichzeitig in ein Umfeld ein, das wie ein Spiegel wirkt.
Man spürt beim Lesen sofort, dass dieses Buch auch persönlich ist. Das ist nicht nur eine erfundene Geschichte, die Smith geschrieben hat. Auf diesen 620 Seiten erschafft Smith eine Roman-welt, die einen erahnen lässt, wie unermesslich groß und vielschichtig die tatsächliche Welt ist, wie grausam und wie glückspendend diese Welt sein kann. Für den Leser ist es eine einzige Freude, ein solches Buch in den Händen zu halten, eines, das nicht immerfort an den Leitplanken der Erzählung aufhört zu sein, sondern eines, das so viele Fäden hinauslaufen lässt und einem überdies auch noch den Tanz als universelle Sprache näherbringt. Zadie Smith Swing Time a. d. Englischen von Tanja Handels, Kiepenheuer & Witsch 640 Seiten, 24 Euro