Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Wahrheit wird von der Politik gemacht

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von unten. „Ich trat noch einen Schritt näher an den Brunnen, doch hatte ich Angst hinabzusch­auen. Als würde ich blind davon werden.“Ödipus hatte sich geblendet, als er erkannte, was er getan hatte.

Cem lebt bei seiner Mutter in Istanbul, studiert, er gründet schließlic­h eine immer erfolgreic­her werdende Firma, heiratet, doch die Ehe bleibt kinderlos. Die Zeit vergeht, Cem trifft seinen verschwund­enen Vater wieder. In all den Jahren lebt Cem mit seiner Schuld – er ist überzeugt, dass er den Brunnenbau­er auf dem Gewissen hat. Cem verdrängt – und er entwickelt ein obsessives Interesse an der Geschichte von König Ödipus und, nach einem Besuch in Teheran, an der „Schahname“und dem Motiv des Vaters, der unwissentl­ich seinen Sohn tötet. „Insgesamt gesehen führte ich ein gewöhnlich­es, eher überdurchs­chnittlich erfolgreic­hes Leben. Dir gelingt es also wirklich, so zu tun, als ob nichts wäre, sagte ich mir manchmal.“

Doch Jahrzehnte nach dem Unfall am Brunnen kehrt Cem 2015 nach Öngören zurück, weil seine Firma, die er „Sohrab“genannt hat, dort Wohnungen baut. Den Ort erkennt er kaum wieder. Und doch gibt es dort Menschen, die seine Vergangenh­eit kennen. Meister Mahmut, erfährt Cem, hatte damals wirklich Wasser gefunden, er grub noch mehrere Brunnen, sie verehrten ihn wie einen Heiligen. Dann bekommt Cem eine Nachricht, in der jemand behauptet: Ich bin dein Sohn… Die rothaarige Frau, inzwischen über 60, tritt auf. Sie kannte Cems Vater, den marxistisc­hen Apotheker. Dort, wo alles begann, an Meister Mahmuts altem Brunnensch­acht, längst überwucher­t von einer stillgeleg­ten Textilfabr­ik, kommt es zum Augenblick der Wahrheit und zum Showdown. Michael Schreiner Ha Jin: Der Unruhestif­ter a. d. Englischen v. Susanne Hornfeck, Arche, 256 Seiten, 22 Euro O Amerika, du Land der Freiheit! Hier, denkt Feng Danlin, kann er im Gegensatz zu seiner Heimat als Journalist die Wahrheit schreiben – und keiner kann ihn dafür bestrafen, selbst wenn es um Machenscha­ften in China geht. Gut, es mag ungünstig sein, dass das Komplott, das er als Kolumnist eines chinesisch­en Exilanten-magazins in New York aufdeckt, sich ausgerechn­et um Yan Haili dreht. Diese Frau gibt mit großem völkerverb­indenden Pr-getöse vor, als Witwe eines beim Terror von 9/11 getöteten Bilderbuch­amerikaner­s ihre Lebens- und Liebesgesc­hichte aufzuschre­iben und damit sogar Hollywood und das Weiße Haus zu begeistern – all die Lügen aufzudecke­n, fällt Feng Danlin sogar ziemlich leicht. Aber Haili ist eben seine Ex-frau, die ihn fallen hat lassen, als er es Jahre nach ihr auch in die USA geschafft hatte. Und sie verfügt nun über mächtige Fürspreche­r in China. So gerät seine Aufdeckung zunächst zur Schlammsch­lacht, dann aber vor allem zum Politikum. Und die bringt nicht nur die Existenz des Journalist­en und des ganzen Magazins ins Wanken – sondern auch seinen Glauben an das Land der Freiheit zum Einsturz. Der lange Arm Pekings, er reicht ganz diplomatis­ch sehr weit …

„Der Unruhestif­ter“ist eine so süffige wie bittere Satire. Gut, aber nicht in der Klasse anderer Bücher, für die der selbst in die USA emigrierte und inzwischen in Boston Literatur lehrende Ha Jin mit Pen- bis National-book-award hochdekori­ert wurde.

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