Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Im Sommer schlief sie nachts im Siebentischwald
Schicksal Als ihr Freund zum aggressiven Trinker wird, verlässt ihn Marion Kieber. Seitdem ist die 46-Jährige obdachlos. Beim Sozialdienst katholischer Frauen erfährt sie Unterstützung. Doch bei einer Sache sind selbst die Helfer machtlos
Als ihr Freund seinen Job verlor, begann das Alkohol-problem. Er fing an zu trinken und wurde Marion Kieber* gegenüber aggressiv. Immer öfter blieb sie bei einer Freundin. Schließlich wurde es so schlimm, dass die 46-Jährige ihn verließ. Seitdem ist Kieber ohne Wohnung. Es ist die Geschichte einer Frau, die vor einem Jahr obdachlos wurde. Die im Sommer nachts in einem Zelt im Siebentischwald schlief. Der wegen ihrer Wohnungslosigkeit auch noch die Arbeit gekündigt wurde. Unterstützung findet sie auch beim Sozialdienst katholischer Frauen Augsburg. Doch selbst die Helfer sind bei einer Sache machtlos.
„Darf ich das Erdbeerteilchen haben? Ich habe heute noch nichts gegessen.“Marion Kieber blickt fragend in die Runde und deutet auf den Teller mit Gebäck. Natürlich darf sie. Die 46-Jährige sitzt an einem Tisch in der Beratungsstelle von Inbela, die zum Sozialdienst katholischer Frauen (SKF) gehört. Mit Inbela bietet der Verband professionelle Hilfe für betroffene Frauen in besonderen Lebenslagen: etwa für jene, die von Obdachlosigkeit bedroht oder bereits betroffen sind. Wie Kieber, Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie sitzt mit Skf-geschäftsführerin Martina Kobriger und Beraterin Katharina Wichmann zusammen. „Ich will meine Geschichte erzählen, um die Menschen auf die Schicksale von uns obdachlosen Frauen aufmerksam zu machen“, sagt sie. Einfach fällt es ihr nicht. Die großgewachsene, schlanke Frau mit den langen, braunen Haaren und dem müden Gesicht wählt ihre Worte mit Bedacht, will nicht zu viel preisgeben. Sie schildert, wie ihr Ex-freund ihre Sachen nach der Trennung auf dem Sperrmüll entsorgte.
„Meine Kleider, meine Möbel, alles was mir gehörte, warf er weg. Ich hatte nichts mehr.“Kiebers fataler Fehler war, dass sie sich nicht in der Stadt angemeldet hatte, als sie vor etlichen Jahren von Berlin nach Augsburg zog. Als sie die Wohnung ihres Ex verließ, hatte sie nicht nur kein Dach mehr über dem Kopf. Sie gab damit auch eine Wohnanschrift auf. Die Frau, die als Security auf Veranstaltungen in ganz Bayern arbeitete, gab es in Augsburg quasi nicht. Es dauerte nicht lange, da kündigte ihr der Arbeitgeber – nach 13 Jahren Zusammenarbeit.
Mal kam Kieber bei einem ihrer Kinder unter. Die leben aber selbst unter schwierigen Umständen. Mal schlief sie bei einer Freundin. Im Fachjargon der Sozialhilfe heißt das verdeckte Obdachlosigkeit. „Unsere Klientinnen sind sehr erfinderisch, wenn es darum geht, einen Schlafplatz zu finden“, sagt Skfgeschäftsführerin Kobriger. Sie weiß sogar von Frauen, die am Rande Augsburgs irgendwo versteckt in Zelten schlafen und tagsüber in die Stadt kommen.
Ihre Rückzugsorte würden diese Frauen aber nicht preisgeben. Marion Kieber schluckt. Auch sie habe schon in einem Zelt geschlafen, sagt sie unvermittelt. Zusammen mit einer Tochter, die ebenfalls obdachlos ist, und den beiden kleinen Enkeln. „Das war im Sommer. Da ging das. Abends gegen 18 Uhr bauten wir das Zelt am Rand des Siebentischwaldes auf. An einer Stelle, wo eigentlich niemand vorbeikommt. Morgens bauten wir es wieder ab, damit es niemand mitkriegte.“Tagsüber hielten sich die Frauen dann mit den Kindern auf Spielplätzen oder in der Stadt auf. Sie aßen meist in der Wärmestube des SKM (Kath. Verband für soziale Dienste). „Dort gibt es belegte Semmeln, was Warmes, hin und wieder auch was Süßes.“Kieber sagt, sie habe ein halbes Jahr gebraucht, um sich selbst einzugestehen, dass sie obdachlos ist.
Von da an suchte sie professionelle Hilfe und kam zunächst im städti- schen Obdachlosenheim in der Johannes-rösle-straße unter. Dann durfte sie in eine Wohngemeinschaft mit zwei weiteren obdachlosen Frauen ziehen. Diese waren wie sie selbstständig, also hatten auch keine Drogen-, Alkohol- oder psychischen Probleme. „Das war angenehm. Jede von uns hatte ihr eigenes Zimmer.“Nach einem Monat mussten sie allerdings schon wieder raus. Die Stadt brauchte die Wohnung für Flüchtlinge, berichtet Kieber. Seitdem ist sie in der Spicherer Schule untergebracht. 70 Männer und Frauen leben derzeit in diesem Übergangswohnheim, weil die Unterkunft in der Johannes-röslestraße wegen Sanierungsarbeiten geräumt wurde. Für Kieber ist das Leben dort eine große Belastung.
„In einem Klassenraum sind zehn Betten. Für 40 Frauen gibt es eine normale Toilette und ein Stehklo. Der Warmwasserboiler reicht gerade für drei warme Duschgänge, wir haben nur zwei Herdplatten“, zählt sie die Umstände auf. Manche würden trinken oder seien psychisch angeschlagen. „Wenn die zusammentreffen, ist das nicht gut. Das gibt oft Streit.“Auch das Zusammenwohnen mit obdachlosen Männern sei sehr unangenehm. „Keine der Frauen würde jemals im Bademantel über den Flur zur Dusche gehen. Wir sind immer voll angezogen.“Häufig geht Kieber mit zwei Frauen, mit denen sie sich gut versteht, in die Stadt. Es ist die Flucht vor der Tristesse aus ihrer momentan ausweglosen Situation. „Bei Regen halten wir uns in der City-galerie auf. Dort ist es trocken und warm.“
„In so einer Unterkunft kann man sein Leben nicht neu starten“, befindet Kobriger. Die Augsburger Skf-chefin räumt ein, dass die Stadt die Not erkannt hat und jetzt ihr Möglichstes tut. Im nächsten Frühjahr werden obdachlose Frauen ein saniertes Haus in der Innenstadt beziehen können. Die Männer kehren in die Johannes-rösle-straße zurück. Doch das reicht nicht, findet Kobriger. Die Betroffenen bräuchten Wohnungen, um wieder auf die Füße zu kommen. Denn ohne festen Wohnsitz meist kein Job. Vor allem für Frauen, wie Marion Kieber, die sich alleine versorgen können, sei das so wichtig. „Die Tatsache, dass Symbolfoto: Ida König es für unsere Klientinnen keine Wohnungen gibt, ist zum Verzweifeln. Der Markt ist dicht und lieber vermieten die Leute an Flüchtlinge oder Studenten als an Menschen, die Arbeitslosengeld beziehen“, sagt Kobriger. Diese Erfahrung machte Marion Kieber selbst zuhauf. Immer wieder erhielt sie auf der Suche nach einer Wohnung Abfuhren. Dass in Augsburg die medizinische Uni-fakultät gebaut wird, werde die Situation zusätzlich verschlimmern, befürchtet die Skf-geschäftsführerin. „Und wenn derzeit gebaut wird, dann meist nur im hochpreisigen Segment. Wir können die Frauen momentan nur unterstützen und begleiten. Wohnungen können wir auch nicht bieten.“
Hilfe hat Marion Kieber beim SKF bereits erhalten. Katharina Wichmann von der Beratungsstelle sorgte etwa dafür, dass die 46-Jährige beim Jobcenter gemeldet wurde und Arbeitslosengeld II in Höhe von 409 Euro erhält. Zudem hat Kieber eine eigene Postanschrift bekommen. Dass immer mehr Frauen in Not geraten, belegt die steigende Zahl der Postadressen. Kobriger kann sich noch an 40 pro Jahr in der Vergangenheit erinnern. In diesem Jahr richtete der SKF bereits knapp 200 Postadressen ein. Wichmann berichtet, dass bislang über das Jahr verteilt 264 Frauen zu ihnen in die Beratungsstelle gekommen seien. Es ist eine Zahl. Hinter jeder einzelnen steckt ein Schicksal. Wie das von Marion Kieber.
Aufruf Der SKF sucht Wohnungen, die sich als Wohngemeinschaften eignen. Die Einrichtung will die Wohnungen an mieten und sorgt dafür, dass Mieter ihr Geld regelmäßig erhalten. Damit sollen Frauen in Not die Chance bekommen, auch wieder einen Job zu finden und so der Obdachlosigkeit zu entrinnen. Inte ressenten können sich an Martina Kobri ger unter Tel. 0821/65042511 oder per E Mail an kobriger.martina@skf augsburg.de wenden.