Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Willkommen in der digitalen Diktatur
China schafft den „besseren Menschen“– mit einem Kontroll- und Bewertungssystem aus Sozialpunkten, das bis 2020 im ganzen Land eingeführt werden soll. In Rongcheng wird es von den Behörden getestet. Ein Ortsbesuch
Tafel an der Außenwand des Dorfkomitees lobend erwähnt: „Er besucht immer seine Eltern, respektiert die Nachbarschaft, hilft anderen, hält Versprechen, gehorcht dem Dorfkomitee.“Eine zweite Liste lässt alle wissen, wie Kinder ihren Eltern unter die Arme greifen: Neben den Namen stehen die Geldbeträge, aber auch Waren wie Speiseöl. Gelobt wird, wenn sie Arztrechnungen bezahlen und häufig zu Besuch kommen.
Alle Bürger über 18 Jahre – mehr als 600000 Einwohner und 140000 Zugezogene – sind in Rongcheng erfasst, berichtete He Junning, Direktor der „Sozialkredit-verwaltung“. Jeder startet mit 1000 Punkten. Das ist Stufe A. Die Behörden liefern Informationen über Verkehrsdelikte, Festnahmen, Spenden und Freiwilligenarbeit. Sein Sozialkreditamt hat acht Mitarbeiter. Ihre Aufgabe: „Wir beschäftigen uns mit der Prüfung und Genehmigung der Informationen für die Kreditpunkte, die uns lokale Stellen liefern.“ Wer 1000 Yuan für einen guten Zweck spendet, bekommt fünf Punkte. Wem die Stadt eine Auszeichnung verleiht, erhält 30. Bei 1300 Punkten ist der Höchststand AAA erreicht. Dann gibt es Ermäßigungen bei Heizungs- oder Wasserrechnungen. Aaa-bürger müssen keine Kaution für Leihfahrräder und in der Bücherei hinterlegen. Will ein Beamter befördert werden, braucht er viele Punkte. Firmen lassen sich bei Einstellungen die Punkte zeigen. Auch manche Eltern wollen wissen, wo der Verlobte der Tochter denn so steht: Schwiegersohn-tüv. In Deutschland gibt es etwa die Schufa, die über die finanzielle Kreditwürdigkeit Auskunft erteilt. In China sollen nicht allein die finanzielle, sondern auch die private, polizeiliche, politische und moralische Vorgeschichte in dieser „Sozial-schufa“zusammenfließen. Ein einfacher Verkehrsverstoß kostet fünf Punkte. „Wer betrunken Auto fährt, fällt direkt auf Stufe C“, sagt Direktor He. Das sind 600 bis 859 Punkte.
Darunter gibt es nur noch Stufe D. So jemand findet schwerer Jobs und wird nicht befördert. Wenn das Register im ganzen Land eingeführt worden ist, sind noch weitere Strafregelungen denkbar. So gibt es schwarze Listen mit Millionen von Chinesen, die mit Gerichten oder Behörden in Konflikt geraten sind. Sie können schon heute zum Beispiel keine Flüge buchen. Nicht nur Justizdaten fließen bereits ein, auch Banken kooperieren mit dem Sozialkredit-system. Ähnliches gilt für Internetkonzerne wie Alibaba: Keiner sammelt in China mehr Daten über seine Kunden als der Kreditarm Sesam (Zhima) der Handelsplattform. Das Sozialkreditamt in Rongcheng habe eine Zusammenarbeit mit Alibaba vereinbart, berichtet Direktor He. „Was genau an Daten ausgetauscht werden soll, wird noch verhandelt.“
Schwiegersohn TÜV Kontrolle durch Wandel
Mit seinen mehr als 770 Millionen Internetnutzern bietet China einen gewaltigen Datenpool. So schaut sich die Verwaltung der Nachbarschaft „Morgenröte“auf der anderen Straße des Sozialkreditamtes von Rongcheng schon die Aktivitäten ihrer 12000 Bewohner auf sozialen Medien genau an. Auf einer Schautafel wird vor kritischen Äußerungen online gewarnt. Wenn jemand „im Internet Gerüchte verbreitet oder andere verleumdet“, könne die Familie nicht mehr als „zivilisiert“eingestuft werden. Dass Äußerungen in sozialen Medien benotet werden, ist Herrn Chen neu. Er ist Unternehmer, hat zwei Kinder und wohnt seit zehn Jahren in dem Viertel. „Ich denke, dass das System die einfachen Menschen nicht zu sehr betrifft“, meint der 32-Jährige. „Aber ich habe das Gefühl, dass sich das Benehmen der Leute im letzten halben Jahr verbessert hat.“
Also, wie lässt sich Gutes tun und der Punktestand verbessern? Dafür ist Frau Ju Junfang, Vizedirektorin des Freiwilligenzentrums, zuständig. „Viele Leute kommen zu uns und leisten Freiwilligenarbeit – hohe Beamte wie einfache Leute.“Für 30 Stunden Arbeit gibt es fünf Punkte, für 60 Stunden zehn. Eine Gesellschaft brauche Regeln, argumentiert eine Dame vor dem Supermarkt. „Sonst gibt es ein Durcheinander.“Das System habe viel erreicht, findet die Frau. Das Viertel „Morgenröte“habe einen guten Ruf. Ihre Wohnungen stiegen im Wert. „Ich hoffe, dass dieses System gefördert und ausgebaut wird, um jeden zu beobachten.“Um ihre Privatsphäre sorgt sie sich nicht. „Ich vertraue der Regierung. Wem könnte ich noch trauen, wenn ich der Regierung nicht mehr trauen kann?“