Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Scharfmacher von der „Bild“
„Fall Susanna“In diesen Tagen wird
Julian Reichelt (unser Foto) von Kritikern gerne an eine Kampagne des Boulevardblattes erinnert: „Refugees welcome – Wir helfen“. Ja, es gab eine Zeit, da verkündete die pathetisch: „Deutschland setzt ein Zeichen: Flüchtlinge, willkommen!“Mit der Aktion wolle die „ein Zeichen der Menschlichkeit setzen. Wir wollen zeigen, dass Schreihälse und Fremdenhasser NICHT in unserem Namen grölen!“Das bedeute: berichte „täglich über Hilfsaktionen, über Menschen, die sich einsetzen für Flüchtlinge“. Es gab eine Zeit, da nahm der damalige SPDCHEF und Vize-kanzler Sigmar Gabriel mit einem „Refugeeswelcome“-button am Jackett auf der Regierungsbank im Bundestag Platz.
Das war vor fast genau drei Jahren; der Ton ist ein anderer geworden. Die berichtet wieder nahezu täglich über Flüchtlinge. Allerdings so wie auf der Titelseite vom 8. Juni, als es um den „Fall Susanna“ging. Der irakische Flüchtling Ali B. hat inzwischen gestanden, das 14-jährige Mädchen aus Mainz umgebracht zu haben, eine Vergewaltigung bestreitet er. Die titelte: „Wenn er abgeschoben worden wäre … würde sie noch leben“. Moritz Tschermak vom
schrieb dazu: „Man könnte diese Titelzeile eins zu eins in einen Afd-tweet oder Beatrix-von-storch-post bei Facebook verwandeln. Und man könnte der Partei dann völlig zu Recht vorwerfen, dass sie versucht, aus einem Tod Kapital zu schlagen. Und so hilft die der AFD enorm mit derartigen Schlagzeilen. Sie gibt die Schwerpunkte, die Sprache, die Aufregung bei Asyl- und Flüchtlingsthemen morgens am Kiosk vor. Und die Partei muss sie am Mittag in ihren plumpen Parolen nur noch aufgreifen.“
So kam es. Von Storch, stellvertretende Vorsitzende der Afd-bundestagsfraktion, reagierte am 10. Juni auf einen Tweet von Reichelt wie folgt: „Und wann entschuldigen Sie sich, @jreichelt? SIE haben die #Refugeeswelcome-party maßgeblich befeuert! SIE sind genauso schuld!!“Reichelt hatte bei Twitter auf einen verlinkt, in dem gefordert wird, dass die Bundesregierung „Susannas Eltern um Verzeihung bitten“sollte: Ali B. hätte „längst nicht mehr in Deutschland“sein dürfen.
Tschermak führte in seinem Artikel „Wie Brücken für die AFD baut“aus, dass die Zeitung seit dem 1. März – dem Tag von Reichelts Antritt als alleiniger Chef der gedruckten nach dem Rücktritt Tanit Kochs – 23 Artikel auf ihrer Titelseite brachte, „die mit den Themen Asyl und Flüchtlinge zu tun haben“, verstärkt seit 21. April („Asyl-skandal. Bestochen? Amts-chefin genehmigt 2000 Anträge einfach so“).
Auch der Medienethik-professor Christian Schicha von der Friedrichalexander Universität Erlangen-nürnberg hat beobachtet, dass es mit dem Skandal um strittige Asylbescheide der Bremer Außenstelle des Bundesamts für Migration Einschnitt und Flüchtlinge einen gegeben habe, was die über Flüchtlinge in jüngerer Zeit betrifft. Gerade versuche sie, eine verbreitete, eher flüchtlingskritische Stimmungslage in der Bevölkerung aufzugreifen. Dabei arbeite sie mit Emotionalisierung, Dramatisierung und Schuldzuweisungen. Mit Blick auf die „Refugeeswelcome“-kampagne sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung: „Bei der gibt es einen Schwenk. Sie hat ihre Haltung beim Thema Flüchtlinge um 180 Grad geändert. Julian Reichelt geht relativ aggressiv vor, vermutlich auch wegen des spürbaren ökonomischen Drucks.“Die Zeitung habe erheblich an Auflage verloren. Und der neue Kurs könne durchaus wirtschaftlich erfolgreich sein; der Reputation der Zeitung schade er aber, meint Schicha. „Was mich dabei ärgert, ist: Die
schadet damit auch dem Journalismus in Deutschland insgesamt, weil von ihr auf andere Medien geschlossen wird.“Der Kurs des früheren Kriegsreportes Reichelt führte auch zu wenig schmeichelhaften Artikeln über ihn. befand im April: „Seitdem Julian Reichelt bei das Kommando übernommen hat, ist das Blatt auf Krawall aus.“schrieb Ende Februar, er sei ein „Feldherr“. Zuvor war er auf das Satiremagazin hereingefallen, dass ihm die Geschichte einer angeblich russisch unterwanderten SPD unterjubelte.
Zum aktuellen Vorwurf, sein Kurs helfe der AFD, sagt Medienethiker Schicha: „Die grenzt sich nach wie vor von der AFD als fremdenfeindlicher Partei ab. Gleichzeitig liefert sie ihr durch ihre Berichterstattung Munition. Und mehr noch: Diese Art der Berichterstattung kann sogar dazu führen, dass die AFD Zulauf erhält. Sie kann sich also durchaus bei der bedanken – und das ist sehr bedauerlich.“ Zur Schlagzeile „Wenn er abgeschoben worden wäre“meint er: „Das ist ein völliger Fehlschluss, dummes Zeug. Derartige Verbrechen passieren nun mal ja auch in Deutschland, verübt von Deutschen.“Beschwerden zu der Schlagzeile haben den Deutschen Presserat bis Mittwochnachmittag nicht erreicht, erklärt der Geschäftsführer des Selbstkontrollorgans, Lutz Tillmanns. Aber: „Zum ,Fall Susanna‘ haben wir mittlerweile acht Beschwerden, darunter auch fünf
betreffende Beiträge, erhalten.“Alle acht Fälle seien jedoch „inhaltlich noch nicht vorgeprüft“. Julian Reichelt und der Axel-springer-verlag ließen eine Anfrage unserer Zeitung zu den Vorwürfen unbeantwortet.
Sie sind nicht die Einzigen, die die Debatte über Flüchtlinge auf problematische Weise prägen. „Es ist erschütternd, wie fixiert die öffentlich-rechtlichen Polit-talkshows auf das Thema Flüchtlinge sind. Im Grunde genommen haben sie alle den Sendungstitel: ‚Deutschland am Abgrund‘“, kritisiert Ethiker Schicha. „So werden Ängste geschürt.“