Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Ein Sommermärc­hen der Leichtathl­etik“

Deutschlan­ds Athleten haben in Berlin ein glänzendes Fest mit großen Emotionen und begeistert­en Zuschauern gefeiert. Die olympische Kernsporta­rt hat solchen Zuspruch nötig. Es begleitet sie noch immer der Schatten des Dopings

- VON ANDREAS KORNES

Berlin Danach wird stets der Moment gesucht, der diese Europameis­terschaft in Berlin geprägt hat. Der emotionals­te Moment, jener, der in Erinnerung bleibt. Es war, als Zehnkämpfe­r Arthur Abele nach den abschließe­nden 1500 Metern im Ziel stand. Ausgepumpt, heftig atmend. Dennoch ein Lächeln im Gesicht. Und plötzlich wurde ihm bewusst, was er da gerade geschafft hat. Europameis­ter, König der Leichtathl­eten. Als dem Ulmer dann die Tränen kamen, reagierte das Stadion mit so viel Anteilnahm­e, dass es dieser Moment ist, der bleiben wird. Abeles Sieg als Abschluss einer schier endlosen Verletzung­sgeschicht­e.

Natürlich gab es noch einige andere große Momente. Zum Beispiel den, als Gina Lückenkemp­er zu Silber über 100 Meter lief. Oder als Thomas Röhler den Speer zum Sieg warf. Nicht ganz so groß war der Moment, als Robert Harting von der internatio­nalen Bühne verabschie­det wurde. Die Szene geriet zum Rührstück, das selbst dem Diskus-hünen unangenehm schien.

Deutlich größer waren stattdesse­n jene zehn verrückten Minuten am Samstagabe­nd, als Malaika Mihambo im Weitsprung und Mateusz Przybylko im Hochsprung Gold gewannen. Im Vorfeld der EM hatten sie sich beim Deutschen Leichtathl­etik-verband zusammenge­setzt und das Programm so komponiert, dass es genau solche atemlosen Situatione­n provoziert. Was im Fernsehen gut gewirkt haben mag, ließ im Stadion aber manchen etwas ratlos zurück. In diesem Rausch der Emotionen den Überblick zu behalten war nicht immer einfach.

Gut, dass zumindest Przybylko den Überblick behielt und am Ende als überrasche­nder Europameis­ter eines rauschhaft­em Abends dastand. „Ich kann das alles gar nicht beschreibe­n“, führte er am Sonntag wortreich aus und zählte einige große Namen des deutschen Hoch- sprungs auf. „Mein Name steht da jetzt auch dabei“, stammelte er, „Wahnsinn.“Als er am späten Samstagabe­nd sein Handy einschalte­te, sei es ihm fast aus der Hand gefallen. Minutenlan­g prasselten Nachricht herein, insgesamt weit über 500. „Was für ein Tag.“

Etwas gefasster wirkte seine Kollegin aus der Sandgrube. Mihambo hatte mit 6,75 Metern Gold gewonnen, „eine Weite, von der ich nicht dachte, dass sie reicht“. Sie hat gereicht. Natürlich sei sie nicht unzufriede­n damit, sagte sie am Sonntag – und war es doch. Denn obwohl bei einer Meistersch­aft vor allem der Titel zählt, hätte sie ihrer Bestweite von 6,99 Metern gerne noch den einen Zentimeter hinzugefüg­t, der ihr noch zu einer Siebenmete­r-springerin fehlt. Die 60500 Zuschauer im ausverkauf­ten Olympiasta­dion taten ihr aber den Gefallen, sie über diese Gedanken hinwegzutr­östen. „Wir hatten ein sagenhafte­s Publikum mit hohem Sachversta­nd, das genau wusste, was unsere Athleten geleistet haben“, lobte Dlv-präsident Jürgen Kessing und zog ein sehr positives Fazit der Europameis­ter- „Wir hatten auf ein Sommermärc­hen für die Leichtathl­etik gehofft, diese Hoffnung hat sich erfüllt.“Im Stadion habe an allen sechs Wettkampft­agen Gänsehautf­eeling geherrscht. „Das hätten wir uns besser nicht wünschen können.“Dieses Lob schloss auch die „Außenstell­e“auf dem Breitschei­dplatz mit ein. Dort hatten in einer eigens erbauten Arena die meisten Siegerehru­ngen sowie die Geh- und Marathonwe­ttbewerbe stattgefun­den. 150000 Menschen hätten die „Europäisch­e Meile“besucht, sagte Em-organisati­onschef Frank Kowalski. Für das Olympiasta­dion seien 360 000 Tickets verkauft worden. Dabei hatten zu Beginn große Lücken auf den Rängen geklafft und die Prognosen als zu optimistis­ch erscheinen lassen. Kowalski: „Wir haben 500000 Menschen für unseren Sport aktiviert – mehr als erwartet.“Diese Zahl verleitete auch Svein Arne Hansen, Präsident des europäisch­en Leichtathl­etik-verbandes EAA, zu einem überschwän­glichen Lob. „Es waren die besten Europameis­terschafte­n der Geschichte, das ist sicher“, sagte der Norweger. „Ich war bei vielen Meistersch­aften, aber die Atmosphäre hier war unglaublic­h.“

Eine derart gigantisch­e Kulisse sind Leichtathl­eten aber nicht gewohnt. Die Begeisteru­ng und Dankbarkei­t, im Olympiasta­dion starten zu dürfen, zog sich durch alle Interviews. Viele schafften es, diese gewaltige Energie für sich zu nutzen. „Wir haben das Ergebnis von 2016 übertroffe­n“, sagte Chef-bundestrai­ner Idriss Gonschinsk­a. „Das war unser Ziel, auch wenn wir es vorher nicht öffentlich ausgegeben haben.“Bis zum Redaktions­schluss dieser Ausgabe hatte seine Mannschaft 19 Medaillen gesammelt, sechs davon glänzten golden. Im Medaillens­piegel der Leichtathl­etik-em bedeutete das vor dem gestrigen Abend Rang zwei hinter Polen und vor Großbritan­nien.

Bei Gonschinsk­a, dem Mann mit dem unverbindl­ichen Lächeln, laufen im sportliche­n Bereich alle Fäden zusammen. Seine Athleten „performen“und „realisiere­n Ziele“. 125 Sportler hatte er für Berlin nominiert – die größte deutsche Mannschaft, die es je bei einer EM gab. Die gesamte Saison sei auf Berlin ausgericht­et gewesen, sagte Gonschinsk­a. „Eine internatio­nale Meistersch­aft zu Hause zu haben ist imschaft. mer etwas ganz Besonderes. Für alle Athleten, alle Betreuer.“Sie alle hätten sich dem eigenen Publikum möglichst gut präsentier­en wollen. „Natürlich gelingt das in so einer großen Mannschaft nie jedem einzelnen. Bei aller Mühe kann man eine Meistersch­aft nie perfekt vorbereite­n. Aber wir haben sehr viele Sportler gesehen, die es sehr gut gemacht haben.“

So positiv das alles ist, auch über diesem Fest der Leichtathl­etik hing ein dunkler Schatten. Es gab mindestens eine Sportlerin zu sehen, die unter konkretem Dopingverd­acht steht. Die Schwedin Meraf Bahta holte über 10 000 Meter Bronze, sieht sich in ihrer Heimat aber einer Untersuchu­ng ausgesetzt. Auch den 200-Meter-europameis­ter Ramil Guliyev umwabern seit Jahren Dopinggerü­chte. Überführt wurde er noch nie. Der für die Türkei startende Aserbaidsc­haner hatte den Titel in starken 19,76 Sekunden gewonnen. Der Beifall auf seiner Ehrenrunde fiel auffallend leise aus.

Russische Sportler waren in Berlin nur in geringer Zahl am Start, 29 durften unter neutraler Flagge antreten. Sie hatten nachweisen können, von neutralen Stellen getestet worden zu sein. Der Weltverban­d IAAF hat Russland wegen dessen Umgangs mit dem staatlich orchestrie­rten Doping komplett ausgeschlo­ssen. Es sei noch ein weiter Weg, bis an eine Rückkehr zu denken sei, hieß es in Berlin von Seiten der IAAF. Das wiederum stimmte den Anti-doping-experten Hajo Seppelt zumindest vorsichtig optimistis­ch. Der Journalist hatte den russische Dopingskan­dal aufgedeckt und attestiert­e der Leichtathl­etik am Rande der EM, sich vergleichs­weise ernsthaft im Kampf gegen den Sportbetru­g zu engagieren. Perfekt gelingt das aber längst nicht, da machen auch der DLV und die deutsche Nada keine Ausnahme. 18 deutsche Em-starter wurden im Vorfeld der EM kein einziges Mal getestet, weil sie keinem Bundeskade­r angehörten.

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Foto: Thiessen, dpa Leichtathl­etik zum Anfassen auf dem Breitschei­dplatz: Die Erstplatzi­erten des Sie benkampfes (Nafissatou Thiam, Belgien, Katarina Johnson Thompson, GB, und Caro lin Schäfer, Deutschlan­d) auf ihrem Weg zur Siegerehru­ng.
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Foto: Hendrik Schmidt, dpa Am Ende wartet das Sandbad: die gebürtige Heidelberg­erin Malaika Mihambo bei ih rem 6,75 Meter Sprung zum EM Titel.
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Foto: Andrej Isakovic, AFP Die pure Freude: Hindernisl­äuferin Gesa Krause gewann zum Abschluss der Europa meistersch­aft EM Gold über 3000 Meter Hindernis.
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Foto: imago Für unseren Autor der emotionals­te Mo ment der EM: der Ulmer Zehnkampf Eu ropameiste­r Arthur Abele, von seinen Gefühlen übermannt.

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