Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Zu viele Geister
Über das Schicksal einer Sinti-familie
Ursula Krechel: Geisterbahn Jung und Jung, 650 Seiten,
32 Euro
Wie fängt man eine Rezension über ein Buch an, dessen Inhalt so niederschmetternd und bedrückend ist? Gleich das Schlimmste zuerst, damit der Leser eine Ahnung hat, worum es gehen wird? Aber: Ist er dann nicht zu geschockt? Vielleicht besser mit dem bisschen heile Welt, nach dem sich die Protagonisten nach allem, was passiert ist, was so unendlich schmerzhaft war, sehnen? Als Kontrast zur Tragödie?
Vielleicht am besten mit der Autorin, zum einfacheren Einordnen, bevor es in die Vollen geht. Ursula Krechel, 1947 in Trier geboren, wurde durch Gedichte bekannt, berühmt aber durch ihre Romane, in denen sie sich nach umfangreichen und aufwendigen Recherchen mit Exilanten und Remigranten während und nach der Nazizeit befasst. In „Shanghai fern von wo“schreibt sie von jüdischen Exilanten in Schanghai. Auch ihr 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman „Landgericht“beruht auf einer wahren Begebenheit: Ein jüdischer Richter kommt nach dem Krieg zurück und zerbricht im Nachkriegsdeutschland daran, dass ihm seine Familie fremd geworden ist und er auch in seinem Beruf nicht Fuß fassen kann. Nun ist „Geisterbahn“, der dritte Roman dieser Reihe erschienen – wieder erzählt Ursula Krechel eine bedrückende Geschichte mit ihrem besonderen Ton. Dieses Mal begibt sie sich mit ihren Protagonisten in ihre Heimatstadt Trier und begleitet die Personen fast zwei Generationen lang. Wieder gibt es echte Vorbilder – die Krechel in alten Polizeiberichten fand.
Da ist zum einen die Familie Dorn. Vater Alfons, Mutter Lucie und die sechs Kinder. Sie sind stolze Sinti, sprechen untereinander Romanes, ziehen als Schausteller durch die Moselgegend und haben ein kleines Haus in Trier. Doch der Alltag wird zusehends schwerer, seitdem Hitler an der Macht ist. Alfons bekommt nicht mehr die Stellplätze, die er mit den Volksfestbetreibern abgesprochen hat. Als er einen Autoscooter kaufen will, wird er mit der Begründung „Zigeuner“abgewiesen. Wenig später wird er bei einer Geschäftsreise in Berlin von der Polizei interniert. Seine Tochter Kathi wird zwangssterilisiert. Seine Frau verliert bei der Geburt ein Kind, weil die Hebamme nicht kommt. Schließlich: Konzentrationslager – die ganze Familie. Fünf Dorn-kinder überleben das nicht.
Dann ist da auch noch Aurelia, die junge Kommunistin, die das Hitlerregime bekämpft, indem sie Flugblätter schmuggelt. Sie wird von ihrem eifersüchtigen Ehemann verraten. Auschwitz.
Ursula Krechel führt den Leser nicht direkt nach Auschwitz oder Buchenwald. Sie lässt Bernhard die gesamte Geschichte erzählen, einen alten Lehrer im Heute und Sohn eines Polizisten von damals. Seinen autoritären Nazivater nennt er durchweg „MEINVATER“. Die Erzählstränge treffen etwa in der Mitte des Buches aufeinander, als Bernhard zusammen mit anderen 1947 geborenen Kinder der Protagonisten eine Schulklasse besucht. Und die furchtbaren Geister aus der Vergangenheit immer wieder auftauchen und sich auch neue aus der Gegenwart melden.
Das Herausragende an dem Buch sind nicht nur die Komposition und die Geschichte. Es sind auch Krechels Erzählstil, ihre lyrische Sprache, die den Leser trotz des niederschmetternden Stoffes weiterlesen lassen. Distanziert und doch ergreifend. Vieles geschieht zwischen den Zeilen, ist nur angedeutet, lässt viel Spielraum für eigene Interpretationen und ein riesiges, beklemmendes Gedankenkino.
Das Buch ist bedrückend, es kann Albträume bereiten – und gerade deswegen ist es wichtig, dass es erschienen ist. Mit Blick auf die Nachrichten aus Chemnitz nun sogar noch wichtiger.
Lea Thies