Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Putin steckt dahinter
Mit Wucht gegen die Unterwanderung
Timothy Snyder: Der Weg in die
Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika A. d. Englischen von Ulla Höber und Werner Roller, C. H. Beck 376 Seiten, 24,95 Euro
Achtung, ein amerikanischer Star-historiker räumt auf. Besser: Er räumt weiter auf. Und jetzt mit noch mehr Wucht. Der in Yale lehrende Timothy Snyder ist dank Büchern wie „Bloodlands“und „Black Earth“eigentlich weltweit ausgezeichneter Experte für Europa und die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, enterte aber zuletzt schon die Gegenwart, um in „Über Tyrannei“mit Trump abzurechnen. Ein Weltbestseller. Und jetzt lüftet er die Methode dahinter.
„Der Weg in die Unfreiheit“heißt sein neues Buch. Und wenn im Untertitel dazu „Russland, Europa, Amerika“stehen, ist das keine bloße Reihung, sondern bereits der Hinweis auf Wirkungsfolgen: Was praktisch überall den liberalen Geist unterwandert, beginnt, so Snyders Befund, alles bei Putin.
Bevor es zu den teils mit arg überbordender Lust zusammengelesenen Details geht, die wohl auch dem Us-ermittler Robert Mueller weiteres Material zur russischen Einflussnahme auf die Us-politik Material liefern, zunächst zum analytischen Grundmuster. Timothy Snyder, 69, unterscheidet eine „Politik der Unausweichlichkeit“, in die sich der Westen quasi eingenistet hatte, und eine „Politik der Ewigkeit“, mit der dieser nun unterwandert wird.
Ersteres erinnert an Fukuyamas Befund vom „Ende der Geschichte“. Die Unausweichlichkeitspolitiker also glauben – siehe auch Zusammenbruch des Sowjetreichs –, dass sich der Fortschritt mit seiner Marktmacht und der damit einhergehenden Demokratisierung letztlich gegen alles andere global durchsetzen werde. Tatsächlich habe es ja auch eine Entwicklung in diese Richtung gegeben, aber vor allem der Westen habe begonnen, sich diese „zu einem Kokon des Wohlgefühls zu verschönern“. Dagegen habe sich in den vergangenen Jahren die „Politik der Ewigkeit“positioniert, die „die Nation ins Zentrum des Narrativs eines immer wiederkehrenden Opfers“rückt. Es gehe um den Schutz vor ständigen Krisen und Bedrohungen, es gehe nur noch um „Spektakel und Gefühle“, kein Fortschritt mehr, „die Zukunft versinkt in der Gegenwart“. Das Ergebnis ist internationale Destabilisierung und eine Stärkung der imperialen statt der integrativen Politik.
Laut Snyder ist Russland Ausgangspunkt dieser Entwicklung, weil Putin erkannte, dass durch eigene Kontrolle keine Rückkehr zu früherer Bedeutung möglich wäre – sondern nur durch Destabilisierung, den Fokus auf Ungleichheit, Entsolidarisierung und in der Folge demokratischen Kontrollverlust bei den konkurrierenden Mächten.
Der Historiker beleuchtet noch einmal in bestürzender Klarheit das Vorgehen Russlands bei der Besetzung der Ostukraine. Er zeigt, wie Russland neben all den bekannten späteren Verflechtungen schon früh begonnen hat (samt großzügiger Einmietungen im Trump-tower und weitreichender Kontakte etwa zum Immobilienmogul Aras Agalarow), überhaupt erst die Konstruktion des „erfolgreichen Geschäftsmannes“Donald Trump als Präsidentschaftskandidat zu ermöglichen. Und er zeigt in der Summe bestürzend, wie auch Europas Rechtspopulisten dank russischer Unterstützung wuchsen, etwa der Front National in Frankreich mit Geld.
Aber mitunter drückt Timothy Snyder dabei zu sehr aufs Interpretationspedal. Er behauptet zum Beispiel ziemlich freihändig aufgrund terminlicher Indizien: Putin habe Ende September 2015 beschlossen, Syrien zu bombardieren, und zwar mit betont unpräzisen Bomben, um Flüchtlinge zu produzieren und damit eine Panik unter Europäern zu schüren und auch der AFD zum Aufschwung zu verhelfen. Mit solcher Wucht schadet der Professor seinem Aufklärungsansinnen doch wesentlich.
Wolfgang Schütz