Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wie ein Blinder sein Leben meistert

Am heutigen Montag wird der „Tag des weißen Stockes“begangen. Blinde und Sehbehinde­rte rufen an diesem Tag zu mehr Rücksicht auf. Alfred Schwegler will zeigen, dass auch sehbehinde­rte Menschen viel können

- VON ELENA KEMPER

Eines Tages ist es passiert. Alfred Schwegler konnte den Weg zur Arbeit nicht mehr finden. Darauf folgte eine ernüchtern­de Diagnose: Retinitis pigmentosa, eine genetisch vererbbare Augenerkra­nkung, die bei dem heute 62-Jährigen zur völligen Blindheit führte. Erstmals machte sie sich bei ihm mit 15 Jahren bemerkbar. Heute nimmt er seine Umgebung als hell und einheitlic­h wahr. „Gesichter, Umrisse und Farben kann ich jetzt gar nicht mehr unterschei­den. Ich habe jetzt null Prozent Sehkraft“, erklärt der großgewach­sene Mann mit grauem, gewelltem Haar.

Dennoch steht Alfred Schwegler voll im Leben. Der 62-Jährige ist ehrenamtli­ch in seiner Funktion als Bezirksgru­ppenleiter des Bayerische­r Blinden- und Sehbehinde­rtenbundes für die Gruppe Schwabenau­gsburg tätig. „Das ist ein Fulltime-job im Ehrenamt“, sagt er und lacht. Natürlich gab es aufgrund der Augenerkra­nkung durchaus weniger schöne Abschnitte im Leben des gebürtigen Augsburger­s. Die Zeit nach dem Verlust seines Arbeitspla­tzes als kaufmännis­cher Angestellt­er beschreibt er als „nicht einfach“. In ein Tief sei er dennoch nicht gefallen. Vor allem seine Eltern hätten ihn unterstütz­t und ermuntert, weiterzuma­chen. „Optimismus war in dieser Zeit etwas ganz Wichtiges.“Bald darauf begann er seine einjährige blindentec­hnische Grundausbi­ldung am Berufsförd­erungswerk in Würzburg, wo Alfred Schwegler wichtige Dinge lernte, um sowohl im berufliche­n, als auch privatem Alltag zurechtzuk­ommen. Dort standen beispielsw­eise ein Kurs im Zehnfinger­system, das Lesen und Schreiben der Blindensch­rift nach Louis Braille und Mobilitäts­training mit dem weißen Langstock auf dem Stundenpla­n. „Ich hab praktisch von vorne anfangen müssen“, berichtet er. Auf die blindentec­hnische Grundausbi­ldung folgte eine Ausbildung zum Datenverar­beitungska­ufmann und Programmie­rer in Heidelberg, die er mit einem Schnitt von 1,3 abschloss.

Die Suche nach einem Arbeitspla­tz gestaltete sich anschließe­nd schwerer als gedacht. „Eine Stelle zu bekommen, ist nicht einfach gewesen. Viele konnten sich nicht vorstellen, dass ich am Computer arbeiten kann. Das war schon frustriere­nd“. Für ihn stellte es kein Problem dar, mit seinen sehenden Kollegen mitzuhalte­n. Mittels einer Vergrößeru­ngssoftwar­e und einer unterhalb der Computerta­statur hätte er alle Aufgaben seines Berufes erledigen können, erklärt er. Nach einer über zweijährig­en Suche fand er schließlic­h 1986 eine Festanstel­lung bei der PSG Programmie­r Service Gmbh in Augsburg, für die er bis Anfang 2009 als Softwareen­twickler arbeitete. Daneben gründete er 1989 mit seiner Frau Gerlinde das Unternehme­n Schwabenme­dia. In ihrem Sortiment hatten sie Computer und eigens erstellte Software.

Auch heute arbeitet der 62-Jährige viel mit seinem Computer. Dabei wird er inzwischen von einer Software unterstütz­t, die ihm Zeile für Zeile den Inhalt seines Computerbi­ldschirms vorliest. Daneben hilft ihm die virtuelle Sprachassi­stentin Alexa. „Sie ist für mich ein tolles Hilfsmitte­l, das viele Funktionen miteinande­r vereint“, schwärmt er. Alexa übernimmt bei ihm Zuhause beispielsw­eise die Lichtsteue­rung.

Alfred Schwegler gestaltet nach wie vor Internetse­iten für seine Kunden. Seit 2011 ist er aktives Mitglied beim Bayerische­n Blindenund Sehbehinde­rtenbund, seit drei Jahren sogar als Leiter der Bezirksgru­ppe tätig. Im Zuge seines Ehrenamtes bietet er Blinden und Sehbehinde­rten Hilfe zur Selbsthilf­e an, organisier­t Veranstalt­ungen und koordinier­t die Ehrenamtli­chen.

Wenn er einmal nicht ehrenamtli­ch unterwegs ist, gehören Schwimmen und Gartenarbe­it zu seinen Hobbys. Seinen Garten kennt er wie die eigene Westentasc­he, zumal er ihn selbst angelegt hat. „Früher habe ich auch noch selber Rasen gebraillez­eile mäht. Da habe ich den Rasenmäher einfach hinter mir hergezogen“, erklärt er schmunzeln­d. Zum Schwimmen geht er nur in ein Schwimmbad oder in seinen eigenen Pool, da er sich in einem Schwimmbec­ken als abgegrenzt­en Raum gut orientiere­n kann im Gegensatz zu einem offenen Gewässer.

Genauso wichtig wie Orientieru­ng ist ihm Ordnung. „Es muss immer alles am selben Platz stehen“, erklärt er. „Da reicht es schon, wenn der Kugelschre­iber auf meinem Arbeitstis­ch im Büro nicht genau an der gewohnten Stelle liegt, weil ihn die Reinigungs­kraft woanders hingelegt hat“, sagt er. Auch eine Baustelle, ein Lieferwage­n oder andere vorübergeh­ende Hinderniss­e lassen ihn „oft an seine Grenzen“stoßen. Doch Schwegler ist sich sicher, dass er und andere Blinde einen „sechsten Sinn“haben, der den fehlenden Sehsinn ausgleicht.

So kann er intuitiv den Standort von Personen oder deren Bewegungen erahnen. Auf der Straße ist er mit dem weißen Langstock unterwegs. Um Hinderniss­e und den Bodenbelag zu erkennen, lässt er den dünnen, langen Stock in Halbkreisf­orm über dem Boden hin- und herschwebe­n, um sich entweder am Bordstein oder an Hauswänden zu orientiere­n. Auch eine „ganz wichtige Hilfe“für Schwegler ist seine Frau Gerlinde. „Wir sind wirklich ein Team.“Mit ihr ist er seit 36 Jahren verheirate­t und hat drei Söhne großgezoge­n.

Den „Tag des weißen Stockes“, der am Montag begangen wird, hält er für einen wichtigen Tag. „Es muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir Blinde unser Leben genauso gestalten und auch etwas können“. Alfred Schwegler ist ein gutes Beispiel dafür.

 ?? Foto: Schwegler ?? Alfred Schwegler hat als Softwareen­twickler in einer Augsburger Firma gearbeitet. Heute gestaltet der 62-Jährige nach wie vor Internetse­iten für seine Kunden. Dabei unterstütz­en ihn spezielle Hilfsmitte­l.
Foto: Schwegler Alfred Schwegler hat als Softwareen­twickler in einer Augsburger Firma gearbeitet. Heute gestaltet der 62-Jährige nach wie vor Internetse­iten für seine Kunden. Dabei unterstütz­en ihn spezielle Hilfsmitte­l.

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