Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Vorsicht, zerbrechliche Utopien!
Aus Obstkisten und Schaltplänen, Papier und Draht erschafft Jenny Michel Gegenentwürfe zur lesbaren Welt
Was ist das alles? Vom Himmel gestürzte Blackboxes? Vom Meer angeschwemmte Archivkisten? Zerbrochene Raumkapseln, zersplitterte Schiffe, in Fetzen herunterhängende Informationsträger und Schalttafeln? Wie ein Archäologe, der ahnt, aber nicht begreift, bewegt sich der Besucher im Kunstverein Augsburg durch die Ausstellung „Imagine Clouds“von Jenny Michel. Zu sehen sind „Trashed Utopias“, weggeworfene Utopien, übermittelt in Gestalt „armer“Materialien wie Pappe, Papier, Obstkistenholz, Klebestreifen, Draht.
An den Wänden wuchern filigrane Gespinste und Wolken aus Draht und Papieren – Netzwerke, komplexe Strukturen. Überall Schalttafeln, Baupläne, Diagramme, Zahlen, Symbole, Fragmente von Konstruktionszeichnungen. Und nun? Wie liest man diese Kunst, die so akribisch, detailreich, vielschichtig und verdichtet ist? Wie sind diese Collagen und durchlöcherten Informationsträger zu entschlüsseln?
Wofür stehen die zerfledderten Objekte und ausufernden Installationen, die uns da im Holbeinhaus wie codiertes Wissen einer vergangenen Zukunft vor die Füße gefallen scheinen? Zerplatzte Technikträume? Winzige Splitter und Einzelteile, neu zusammengefügt. Welchen Sinn ergeben sie? Alte Koordinatensysteme sind durcheinandergeraten, Wissenschaft begegnet uns als Fremdsprache in neuer Gestalt – als Imagination und Bildstörung.
Logik, Verständnis, Erkenntnis – später. Erst einmal lädt dieses Werk dazu ein, zu schauen, zu assoziieren, die geklebten und getackerten, übereinandergeschichteten Baupläne und brüchigen Konstruktions- sinnlich zu erfassen. Alle diese gedruckten und aufgeklebten Pläne, die ausgeschnittenen Papiernetze, die dreidimensionalen Zusammenschaltungen aus Draht: Ist das nur die Simulation von Information? Ein ausgeweidetes, unleserliches Restprogramm von Weltwissen, die Transformation von Wissenssprache in ein anderes Medium – oder die Neuerschaffung eines zweckfreien, aber ästhetisch schlüssigen universalen Zeichensystems?
Jenny Michel, geboren 1945 in Worms, studierte von 1998 bis 2003 Visuelle Kommunikation, Freie Grafik und Bildende Kunst an der Kunsthochschule Kassel, 2005 und 2006 setzte sie ihre Studien an der Akademie der Künste in Wien fort. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
An die Stirnwand im Eingangsraum des Kunstvereins hat Michel eine Collage aus Billigholz von Obststeigen genagelt. Wörter und Lettern sind zu entziffern. Was zunächst wie eine Sammlung vorgefundener Erzeugernamen oder Produktbezeichnungen erscheint, erweist sich als Zitatensammlung. Milandschaften chel hat utopische Orte aus Literatur und Film auf die Kistenhölzer gedruckt. Von Amazonia über Biosphere II bis zu Citta del Sole und Olymp. So wie hier mischt und arrangiert die Künstlerin immer wieder Fundstücke mit eigenen Interventionen, Vorgefundenes mit neu Geschaffenem. Spurenbilder aus der Umwelt und der Welt des gespeicherten Wissens nutzt Jenny Michel für ihre sinnlichen Installationen, die oftmals aus miteinander verbundenen Modulen bestehen.
In der Arbeit „Fallen Gardens“hängen rund 100 über fünf Meter lange Klebestreifen von der Decke wie Regenfäden. Auf den transparenten Klebestreifen Textauszüge – die Künstlerin hat aus Lexika Textpassagen abgenommen und herausgelöst. Ein Strom des angesammelten Wissens, das sich in Fragmente und Einzelteile auflöst. Die Montagen und Materialskizzen der Künstlerin zerstören alte Ordnungen und Bedeutungen und schaffen neue Zusammenhänge und Systeme. Dekonstruktion und Neukonstruktion: Zwischen diesen Polen entsteht die zerbrechliche, feinsinnige Kunst Michels. Indem sie ihr eigenes Zeichensystem erschafft, bietet Jenny Michel neue Lesarten unserer Umwelt und unseres Informationszeitalters an. Die Sensibilität, mit der sie erkundet, aufzeichnet, verdichtet und fortspinnt, führt zu offenen Werkkomplexen, in denen sich der Betrachter wie in einem inspirierenden Labyrinth bewegen kann. Es gibt viele Wege, zu denen diese künstlerische Kartografie einlädt – und am Ende kein eindeutiges Ziel.
OLaufzeit bis 9. Februar. Holbeinhaus, Vorderer Lech 20. Geöffnet Dienstag bis Sonntag 11 – 17 Uhr. Führungen am 9. 12, 15 Uhr und 16. 1., 16 Uhr