Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Serienmörder und ich
Matthias Corssen hatte das Glück, das mehr als 100 andere Menschen nicht hatten: Er überlebte einen Mordversuch des früheren Pflegers Niels Högel. Doch sein Verfahren wurde eingestellt. Wie Corssen damit lebt? Verdammt schlecht
Ganderkesee In den Abendstunden des 21. Juni 2004 kommt es auf der Bergedorfer Straße in Ganderkesee im Kreis Oldenburg zu einem Verkehrsunfall. Zwei Kleinwagen, der Ford Ka eines Pizzalieferdienstes und ein Smart, stoßen frontal zusammen. Der Pizzabote bleibt unversehrt, der Smartfahrer sitzt schwer verletzt im Auto.
Ein Rettungswagen des Deutschen Roten Kreuzes, Kreisverband Oldenburg-land, ist schnell vor Ort. Für die Helfer ist Einsatz Nummer 4158 kein gewöhnlicher. Bei dem Unfallopfer handelt es sich um einen Kollegen aus dem Rettungsdienst: Matthias Corssen, 28 Jahre alt.
Corssen ist zunächst ansprechbar, bis er „in einem Bruchteil von Sekunden eintrübte und bewusstlos wurde“, wie es später in den Berichten heißt. Ein Rettungsassistent intubiert ihn „in Windeseile“, damit er weiteratmen kann. Die Helfer ziehen Corssen aus dem Fahrzeugwrack, der Rettungshubschrauber „Christoph 6“fliegt ihn in eine Oldenburger Klinik. Corssen überlebt.
„Du kannst froh sein, dass wir da waren – und nicht irgendwelche Amateure!“, sagt später ein Kollege zu ihm. Es ist der Kollege, der Corssen den Tubus legte.
Zehn Jahre später klingelt bei Matthias Corssen das Telefon, die
Polizei ist dran.
„Sind Sie Herr Corssen?“, fragt eine Polizistin.
„Das kommt darauf an“, antwortet Corssen mit einem Scherz.
„Sie sind Bestandteil einer Ermittlung“, informiert ihn die Polizistin, „und zwar als Opfer eines Mordversuchs.“
Der Kollege, der Corssen 2004 intubierte, soll ihm vorher heimlich ein Medikament gespritzt haben, um Atemstillstand und Bewusstlosigkeit auszulösen.
Der Name des Kollegen ist Niels Högel.
Högel wird häufig als „Krankenhausmörder“bezeichnet. Der frühere Pfleger steht zurzeit vor Gericht, weil er in Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst 100 Patienten getötet haben soll. An diesem Dienstag wird das Verfahren fortgesetzt. Dann sollen frühere Kollegen und Ärzte befragt werden. Für sechs weitere Taten im Klinikum Delmenhorst ist er bereits in früheren Prozessen verurteilt worden. Högel ist vermutlich der fürchterlichste Serienmörder in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Der Mann hat aber nicht nur in Kliniken sein Unwesen getrieben. Er hat nebenberuflich im Rettungsdienst in Ganderkesee und Wilhelmshaven gearbeitet, zeitweilig war er zudem in Seniorenheimen in Friedeburg und Wilhelmshaven tätig. Die Sonderkommission „Kardio“hat an allen ehemaligen Arbeitsstellen Högels ermittelt, allein im Rettungsdienst Oldenburg-land überprüften die Polizisten 578 Einsatzprotokolle. Morde ließen sich keine nachweisen.
Das bedeutet aber nicht, dass Högel nichts getan hat. Zwischen Mai 2003 und Juli 2005 war er nach Auskunft des Landkreises Oldenburg an 374 Einsätzen beteiligt. In zwölf Fällen leiteten die Ermittler Verfahren ein, zunächst wegen Mordverdachts. Im Fall von Matthias Corssen stellte ein Gutachter fest: Högel habe ihm „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ein Muskelrelaxans injiziert, um damit eine Krisensituation hervorzurufen.
Juristisch ist die Sache allerdings kompliziert. Corssen überlebte die Tat; wo kein Toter ist, kann kein Mord geschehen sein. Zwar ist auch der Versuch des Mordes strafbar, dem steht aber im Fall Corssen (und im Fall vieler weiterer mutmaßlicher Högel-überlebender) Paragraf 24 des Strafgesetzbuches gegenüber, Überschrift: „Rücktritt“. Högel hat Corssen erfolgreich intubiert, damit ist er rechtlich vom Versuch des Mordes zurückgetreten. Vorzuwer- fen bleibt Högel somit allein eine gefährliche Körperverletzung, er hat Corssen mit der unerlaubten Medikamentendosis ja vergiftet. Anders als für Mord oder Mordversuch gilt für Körperverletzung aber eine Verjährungsfrist. Und die war inzwischen abgelaufen.
Niels Högel? Niemals wäre Matthias Corssen auf die Idee gekommen, der Ex-kollege könne ihm etwas angetan haben. Corssen sagt über Högel das aus, was viele Zeugen gesagt haben: Högel sei medizinisch enorm kompetent, zuverlässig, klug, lustig. „In manchen Nachtdiensten haben wir Tränen gelacht“, erinnert er sich. Nach dem Unfall habe sich Högel dann geradezu rührend um ihn gekümmert.
Als der Kollege in den Jahren 2005/2006 selbst in Schwierigkeiten geriet, hat Corssen ihn eine Weile bei sich wohnen lassen. Högel war aus der Untersuchungshaft entlassen worden, ihm stand ein Prozess wegen des Todes des Patienten Dieter M. im Klinikum Delmenhorst bevor, seine Ehefrau hatte sich von ihm getrennt. Corssen hatte ein Gästezimmer. „Komm zu mir, dann könnt ihr beide mal den Kopf freikriegen“, sagte er zu Högel. Er wollte seinem Lebensretter Dankbarkeit zeigen.
Natürlich, sagt Corssen, mit Högel stimmte damals so einiges nicht. Er blieb nächtelang wach, trank viel, ständig hörte er traurige Musik, die Ballade „You’re Beautiful“von James Blunt lief bei ihm in Dauerschleife. Und über das, was da mit Dieter M. auf der Intensivstation im Klinikum Delmenhorst geschehen sein soll, war mit ihm einfach nicht zu reden.
Als Ende 2014 die Polizei bei Matthias Corssen anruft, denkt er über den Verkehrsunfall von 2004 schon lange nicht mehr nach. Auch Niels Högel ist längst aus seinem Leben verschwunden. Er sitzt seit fünf Jahren im Gefängnis, verurteilt wegen Mordversuchs an Dieter M. siebeneinhalb Jahren Haft. In Oldenburg hat gerade ein zweiter Mordprozess gegen ihn begonnen, es geht um fünf weitere tote Patienten in Delmenhorst. Högel droht nun lebenslänglich.
Corssen sagt bei der Polizei aus, einmal, zweimal. „Und dann“, sagt er, „ging es plötzlich bergab.“Er schläft nicht, er wird depressiv, in seinem Kopf rattert es. Nachts läuft er stundenlang durch die Gegend, er muss sich krankschreiben lassen.
Da sind diese Erinnerungen, die wie Blitze einschlagen in seinen Kopf.
Einmal, das muss so 2010 gewesen sein, meint er, Niels Högel in der Stadt gesehen zu haben. Er wundert sich, denkt nicht weiter darüber nach. In der Nacht erleidet er einen Krampfanfall.
Ein anderes Mal wacht er nachts auf, voller Panik, er lässt sich kaum beruhigen: „Mich will jemand umbringen!“
Ein zweiter Unfall, 2013 auf der Autobahn. Er geht zum Glück glimpflicher aus als der Unfall 2004. Als ein Arzt ihm einen Zugang in die Vene legen will, bekommt Corssen eine Panikattacke.
2017 fällt ihm eine Leiter auf den Kopf, die Wunde muss genäht werden. Im Krankenhaus soll er eine Spritze bekommen, örtliche Betäubung. Corssen überfällt wieder Panik. „Nähen ja – aber ohne Spritze!“, bestimmt er. Er hält die Schmerzen aus.
Warum reagiert er so? Wie viele Unfallopfer kann sich Corssen an den Unfall von 2004 nicht erinnern. Aber er sei zunächst ansprechbar gewesen, steht in den Berichten. Was geschieht in seinem Unterbewusstsein? Stecken da irgendwo Högel, die Spritze mit dem Muskelrelaxans, die Atemnot? Langsam fügen sich für Matthias Corssen die Bilder zusammen.
Er begibt sich in Behandlung, er beginnt eine Traumatherapie.
Niemand weiß, wie viele Högelopfer es gibt. Sechs Todesfälle sind gerichtlich aufgearbeitet worden, 100 weitere werden gerade vor dem Landgericht Oldenburg verhandelt. Es gibt aber sehr viel mehr Verdachtsfälle, die wohl niemals aufgeklärt werden: Mindestens 130 Patienten, die während Högels Schichten im Krankenhaus starben, wurden feuerbestattet und konnten von den Gerichtsmedizinern nicht auf Giftreste untersucht werden. Andere Taten blieben möglicherweise unentdeckt, weil die Patienten vielleicht noch einige Tage weiterlebten oder sich in ihren Krankenakten keinerlei Auffälligkeiten fanden. Und es gibt die Überlebenden. 2015 bekommt Matthias Corssen Post von der Polizei. Aufgrund der Verjährungsfrist sei die Tat nicht mehr verfolgbar, heißt es in dem Schlussbericht der Ermittler. Die Akte Corssen wird geschlossen, ebenso wie die der anderen elf Verdachtsfälle im Rettungsdienst.
Im Fall Högel spielt Corssen keine Rolle. Keine Behörde sagt ihm: Högel hat Ihnen Leid angetan, wir erkennen das an. Kein Gericht stellt fest, dass Niels Högel an Matthias Corssen ein Verbrechen begangen hat. Corssen kann nicht als Nebenkläger im aktuellen Prozess auftrezu ten, er kann kein Schmerzensgeld einfordern, er wird als Högel-opfer nicht mitgezählt.
Seine Therapie bezahlt Matthias Corssen selbst.
„Okay, jetzt können wir ja mal darüber sprechen.“Niels Högel holt tief Luft, es ist der fünfte Sitzungstag im Prozess wegen 100-fachen Mordes in der Oldenburger Weserems-halle, Dezember 2018. Ein psychiatrischer Gutachter hat Högel überraschend nach dem Unfall von Matthias Corssen gefragt. „Wie war das damals?“
Högel nennt Corssen „einen guten Freund und sehr guten Arbeitskollegen“.
Nach dem Unfall kümmerte sich Högel rührend um ihn
Högel nennt Corssen „einen guten Freund“
Er schildert den Rettungseinsatz auf der Bergedorfer Straße: wie Corssen das Bewusstsein verlor, wie sie ihn aus dem Auto zogen. Högel sagt, er wisse von dem „merkwürdigen“medizinischen Gutachten; Corssen hatte ihm einen Brief ins Gefängnis geschickt. In dem Gutachten sei von einer „Manipulation“die Rede. Manipulation, so heißt vor Gericht das Vergiften von hilflosen Patienten. Dann sagt Högel: „Das ist absolut nicht wahr.“
An diesem Tag im Gerichtssaal erzählt Högel noch mehr. Er berichtet von einem Suizidversuch. Er sei in den Wald gefahren, um sich mit Alkohol umzubringen. „Mit den Mengen, die ich bei mir hatte, hätte ich gute Chancen gehabt, dass es auch funktioniert“, behauptet Högel. Ein Freund sei ihm aber hinterhergefahren und habe ihn vom Suizid abgehalten.
Der Freund, das war Matthias Corssen.
Högel rettete Corssen, Corssen rettete Högel. So stellt es der Mörder dar.
Als Corssen den Zeitungsbericht über Högels Aussage liest, zittert er vor Wut und Hilflosigkeit. Jetzt will der auch noch Mitleid erregen auf meine Kosten? Genügt es nicht, dass ich als Überlebender allein dastehe? Muss ich auch noch seine Lügen hinnehmen, ohne etwas dazu sagen zu können?
Nein, das muss er nicht. Das hier ist die Suizid-episode, wie sie Matthias Corssen erzählt:
Högel hat kein Einkommen mehr, als er bei Corssen einzieht. Corssen organisiert ihm ein Vorstellungsgespräch für einen Job als Nachtwächter in einem Hotel, aber Högel lässt den Termin verstreichen. Corssen ruft beim Hotel an und bittet um eine zweite Chance für Högel, „der Mann hat es schwer im Moment“. „Wie soll ich da hinkommen?“, jammert Högel. Corssen leiht ihm sein Auto. Weil er aber ein seltsames Gefühl hat, fährt er ihm mit einer Freundin in einem anderen Auto heimlich hinterher.
Högel fährt tatsächlich nicht zu dem Hotel. Er nimmt Feldwege, irgendwann hält er an. Er sitzt im Auto und hört traurige Musik, „You’re Beautiful“von James Blunt. An der Tankstelle hat er sich vorher ein paar Schachteln Zigaretten gekauft und vielleicht drei Flachmänner. „Das war lächerlich“, sagt Corssen, „niemals hätte sich damit jemand umbringen können!“
Im Gerichtssaal sagt Högel, er habe überlegt, Corssen einen Brief zu schreiben, um ihm alles zu erklären. Er habe aber Angst, dass der Brief bei der Zeitung landet.
„Schreiben Sie den Brief“, empfiehlt ihm eine Anwältin.
Matthias Corssen sagt, er brauche keinen Brief von Högel. „Es ist egal, was er sagt. Ich glaube ihm sowieso kein Wort.“
Er geht weiter zur Traumatherapie. Er sagt, es geht voran. Langsam.
angeblich