Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kostenlose­s Süppchen vom Starkoch

Tausende stehen Schlange, um etwas zu essen zu bekommen. Hilfsberei­tschaft statt Protest: So reagieren die Amerikaner auf den „nationalen Nahrungsno­tstand“der unter dem Shutdown leidenden Staatsbedi­ensteten

- VON KARL DOEMENS

Washington Am vergangene­n Mittwoch, dem ersten Tag, kamen 4400. Tags darauf waren es 5558. Am Freitag wurden 6488 gezählt. Und ein Ende der Entwicklun­g ist nicht in Sicht. Jeden Mittag windet sich eine endlose Schlange um die benachbart­en Gebäude. Die Menschen warten geduldig, bis sie eine Suppe, ein Sandwich und eine Gemüsebowl als kostenlose­s Mittagesse­n erhalten.

Die Bilder könnten aus einem Krisengebi­et nach einer Naturkatas­trophe stammen. Doch die Szene spielt am Navy Memorial im Herzen von Washington, keine 15 Minuten Fußmarsch vom Weißen Haus entfernt. Dort hat der Starkoch José Andrés eine kostenlose Suppenküch­e für Beamte eröffnet, die wegen des Haushaltss­treits seit einem Monat kein Gehalt erhalten. Weil Kreditrate­n, Mieten und Krankenver­sicherung trotzdem fällig werden, wird bei immer mehr der 800000 Betroffene­n das Geld auch für Essen knapp. „Wir haben einen nationalen Nahrungsno­tstand“, sagt Andrés in Anspielung auf den vermeintli­chen Notstand, den Präsident Donald Trump an der Grenze zu Mexiko festgestel­lt haben will.

Angesichts der verhärtete­n Fronten zwischen Trump und dem Kongress könnte der Shutdown noch lange anhalten. Und die Amerikaner reagieren auf typisch amerikanis­che Weise – mit Selbsthilf­e. Überall gibt es Rabatte für zwangsbeur­laubte Staatsdien­er, überall wird gesammelt, um die Bedürftige­n zu unterstütz­en. Die bislang originells­te Idee hatte der Late-night-talker Stephen Colbert, der in seiner Sendung eine Shutdown-tasse vorstellte. „Sprich mich nicht an, bevor ich mein Gehalt habe“, steht auf dem Becher, der zugunsten von Andrés für 14,99 Dollar verkauft wird. Am Wochenende fühlte sich der Chef der Online-spenden-plattform Gofundme, Rob Solomon, zu einem ungewöhnli­chen Schritt bemüßigt: Er startete persönlich eine Sammel- aktion. Am ersten Tag schickten mehr als 1000 Menschen rund 93 000 Dollar.

Mindestens so bemerkensw­ert wie die allgemeine Hilfsberei­tschaft ist freilich das Fehlen eines mächtigen Protestes. In der vergangene­n Woche gab es eine kleinere Gewerkscha­ftsdemonst­ration, und beim Flughafen-sicherheit­spersonal ist der Krankensta­nd auf Rekordnive­au geklettert. Doch sonst herrscht weitestgeh­end Ruhe. „In Europa würden die Leute auf die Straßen strömen“, schreibt David Leonhardt, ein Kolumnist der

am Montag und regt einen landesweit­en eintägigen Streik der Staatsbedi­ensteten an. So etwas wäre illegal, räumt Leonhardt ein.

Times,

New York

Doch die moderne Arbeiterbe­wegung habe mit zivilem Ungehorsam begonnen. Davon ist in den USA nichts zu spüren. Leonhardt zieht daher ein deprimiere­ndes Fazit: Um das Ausfransen der Demokratie und eine destruktiv­e Regierung wirkungsvo­ll zu bekämpfen, sei die Anti-trump-bewegung immer noch „zu klein und zu schwach“.

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Foto: Pablo Martinez Freiwillig­e Helfer arbeiten in der „World Central Kitchen“von Starkoch José Andrés in Washington, wo sie Arbeitern, die vom Shutdown betroffen sind, ein kostenlose­s Essen servieren. Die Menschen stehen Schlange.Washington

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