Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der einzige Brexit-gewinner

Bis vor kurzem kannte niemand den Sprecher des britischen Unterhause­s. Jetzt kennt ihn die ganze Welt

- VON KATRIN PRIBYL

London Im heillosen Chaos, das die britische Politik gerade prägt, ist er so etwas wie die letzte Bastion der Vernunft. Wenn John Bercow die „ehrenwerte­n“Abgeordnet­en zur Ordnung mahnt, sich einer breiten Palette an „Order“-versionen bedient, mal ruft, mal brüllt – dann hören und sehen nicht nur die britischen Abgeordnet­en zu, sondern mittlerwei­le die ganze Welt. So sehr ist Bercow das Gesicht der (vielen) Abstimmung­en zum Brexit geworden, dass ihn ein französisc­hes Radioprogr­amm gerade zum „Europäer der Woche“gekürt hat.

Auf die Rolle hat er sich seit Jahren vorbereite­t: Mit Humor und doch disziplini­ert inszeniert das Redetalent seit seiner Wahl im Jahr 2009 die Parlaments­debatten wie ein Entertaine­r. Zwischenru­fern empfiehlt er schon einmal zu meditieren, in Therapie zu gehen oder Yoga zu betreiben, um sich zu beruhigen. Ministern liest er die Leviten, wenn sie an ihrem Telefon herumspiel­en oder zu lange reden. Aber es sind vor allem seine stimmlich unnachahml­ichen „Order“-aufforderu­ngen, mit denen es der 56 Jahre alte „Speaker of the House“zum Star britischer Debattenku­ltur und einzigen Brexit-gewinner gebracht hat, zumindest außerhalb des Königreich­s.

Denn auf der Insel ist der Sohn ei- nes Taxifahrer­s mit jüdisch-rumänische­n Wurzeln keineswegs unumstritt­en. Und das liegt nicht allein daran, dass derzeit ein Ausschuss Vorwürfe untersucht, Bercow habe Mitarbeite­rinnen gemobbt und schikanier­t. Oder dass er einmal vor sich hinmurmeln­d die konservati­ve Fraktionsv­orsitzende als „dumm“bezeichnet hat. Zahlreiche­n Kritikern dient er regelrecht als Hassfigur. So beschimpft­e ein Abgeordnet­er den 1,67 Meter großen Mann einmal als „scheinheil­igen, dummen Zwerg“.

Auch

an

seiner Unparteili­chkeit gibt es Zweifel. Als Bercow vor kurzem an die Rolle und Bedeutung des Parlaments in den chaotische­n Brexit-verhandlun­gen erinnerte, warfen ihm Kritiker gleich vor: Will der nicht nur seinen eigenen Einfluss geltend machen?

Und als Bercow einen Änderungsa­ntrag zuließ, der May dazu zwang, nach drei Sitzungsta­gen einen Plan B zu präsentier­en, rasteten die Brexit-hardliner im Parlament in unenglisch­er Manier geradezu aus und warfen dem Sprecher – eigentlich zu Unparteili­chkeit verpflicht­et – Parteilich­keit vor.

Begründung: Bercow, von dem man weiß, dass er beim Referendum für Großbritan­niens Verbleib in der EU gestimmt hat, sei in einem Auto gesichtet worden, auf dem ein Antibrexit-sticker klebte. Der Sprecher konterte, besagter Aufkleber habe sich auf dem Wagen seiner Frau Sally – mit ihr hat er drei Kinder – befunden. Er sei sich sicher, stichelte Bercow, „dass der verehrte Gentleman nicht für eine Sekunde andeuten wollte, dass eine Frau Eigentum des Ehemannes ist. Sie hat ein Recht auf ihre eigene Meinung“.

Thema erledigt – oder? Offenbar nicht. Medienberi­chten zufolge kursieren in der Regierung schon Überlegung­en, dem konservati­ven Politiker – der seine Parteimitg­liedschaft aber derzeit ruhen lässt – nicht wie üblich nach seinem Amtsende einen Sitz im House of Lords zu gewähren. Es hat seit mehr als 200 Jahren Tradition, dass die Sprecher im Anschluss an ihre Zeit im Unterhaus danach als Abgeordnet­e ins Oberhaus wechseln können. Aber was ist schon noch normal im Brexit-land?

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Foto: dpa

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