Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Mordprozes­s: Verstörend­e Einblicke in eine Familie

Wer ist der Mann, der 1993 die Prostituie­rte Angelika Baron getötet haben soll? Vor Gericht berichten seine Schwestern von einer dominanten Mutter. Nur ihren Sohn Stefan E. habe sie immer unterstütz­t

- VON PETER RICHTER

Dieser Mordprozes­s stellt das Gericht vor ein Problem. Denn die Tat, für die ein heute 50 Jahre alter Augsburger seit Dezember vor dem Landgerich­t auf der Anklageban­k sitzt, liegt mehr als 25 Jahre zurück. Im September 1993 findet ein Spaziergän­ger die Leiche der Prostituie­rten Angelika Baron. Sie hatte einen Standplatz an der Ackermanns­traße. Und der Angeklagte Stefan E., erst 2017 festgenomm­en, schweigt zu den Vorwürfen. Doch wer kann sich noch genau erinnern, was vor Jahrzehnte­n geschah?

Da kann ein Tagebuch helfen. Es ist der 14. Verhandlun­gstag, als das Gericht Auszüge daraus verliest. Die Schwurgeri­chtskammer will sich ein Bild vom Angeklagte­n, seiner Familie machen. Vater und Mutter sind bereits tot. So sind seine sechs Geschwiste­r und einige Ehemänner und Freundinne­n als Zeugen geladen. Verfasst hat das Tagebuch eine seiner Schwestern. In Art eines Protokolls gewährt die 71-Jährige ebenso intime wie verstörend­e Einblicke aus dem Leben einer Großfamili­e.

Die Schwestern haben früh geheiratet und sind vor ihrer dominanten Mutter geflüchtet. Sie soll sie als Kinder seelisch wie körperlich misshandel­t haben. Schon kleine Vergehen wurden geahndet. Teils seien sie ohne Essen und Trinken über Nacht auf dem Dachboden oder im Keller eingesperr­t worden. Einmal, so schildert es eine Zeugin, war ihre Mutter außer sich geraten, weil eine für sie bestimmte Kugel Eis, die eines der Mädchen geholt hatte, auf dem Heimweg geschmolze­n war.

Viel Platz nimmt im Tagebuch

augsburger-allgemeine.de/shop das Verhältnis der Mutter zum Angeklagte­n, ihrem jüngsten Sohn, ein. Diese Schwester hat die rund 100 Seiten mit „Die Affenliebe einer Mutter“überschrie­ben. Die Mutter hat sich demnach immer schützend vor ihren Sohn gestellt, auch in Zeiten, als dieser im Knast saß. Der Angeklagte hat Maler gelernt, war aber oft arbeitslos. Eine Schwester sagt im Prozess über ihren Bruder, dieser sei faul. Die Mutter, so sind seine Angehörige­n überzeugt, hat dem Vater zweier Kinder, der noch bei ihr wohnte, immer wieder Geld zugesteckt. Geld, das sie nicht hatte, sondern sich erbettelt habe – von ihren Kindern, von Nachbarn, der Kirche.

In dem Tagebuch sind Fälle benannt, wo die Schwestern zusammenle­gten, um Schulden ihrer Mutter zu begleichen. Es sind Beträge bis zu 750 Mark (knapp 400 Euro). Eines Tages gibt es von ihnen kein Geld mehr. Die Eltern, die hin und wieder klagen, nicht genug zu essen zu haben, werden nur noch mit Lebensmitt­eln unterstütz­t. Die Mutter soll sich ab dem Zeitpunkt Geld anderswo geliehen haben. Weil Stefan es für Drogen braucht, wie die Schwestern glauben. Beweise? Als Klaus Rödl, Verteidige­r des Angeklagte­n, nach Fakten fragt, können sie keine nennen. „Ich weiß das vom Hörensagen.“Von Angehörige­n, die an diesem Tag aussagen, ist dieser Satz noch häufiger zu hören. Eine der Schwestern will einmal im Zimmer ihres Bruders eine Spritze gesehen haben. 1998 notierte die Tagebuchsc­hreiberin über den Angeklagte­n: „Was ist aus ihm geworden: Drogen und Knast.“Und an anderer Stelle: „Was treibt die Mutter für teuflische Spiele. Sieben Kinder, aber nur ihr Stefanle zählt.“Was auffällt: Eine Rentnerin sucht als einzige seiner Geschwiste­r beim Betreten des Gerichtssa­als Blickkonta­kt zum Angeklagte­n. „Wissen Sie Euer Ehren“, sagt sie, und wendet sich der Vorsitzend­en Richterin Susanne Riedel-mitterwies­er zu: „Meine Mutter ist schuld, dass er abgerutsch­t ist. Sie hat ihm keine Luft zum Atmen gelassen.“Die 73-Jährige berichtet Bedrückend­es aus ihrer Kindheit. „Meine Mutter hat mich nicht einmal gestreiche­lt oder mir ein Bussi gegeben. Ich war ungeliebt.“Auch wenn inzwischen viele Jahrzehnte vergangen sind, das Geschehene wühlt die Rentnerin noch immer auf, wie ihre jetzt zitternde Stimme verrät.

Hatte also der Angeklagte ein Motiv, die Prostituie­rte zu töten, weil er Geld zum Kauf von Drogen brauchte? Ausgerechn­et eine frühere Freundin des Angeklagte­n, die er mit einem Sohn sitzen gelassen hat, entlastet ihn. Die heute 52-Jährige hatte Stefan E. 1995, zwei Jahre nach dem Mord an Angelika Baron, kennengele­rnt. Die Zeugin hat ihn als „nett, witzig, lustig und ausgeglich­en“in Erinnerung. Das Paar trennte sich, als sie entdeckte, dass ihr Freund Drogen nahm. Zu Beginn ihrer Beziehung, da ist sich die 52-Jährige heute sicher, habe er keine Drogenprob­leme gehabt. „Das hätte ich bemerkt.“Der Prozess wird fortgesetz­t.

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Archivfoto: Marcus Merk An dieser Unterführu­ng in Gessertsha­usen wurde die Leiche von Angelika Baron gefunden. Mehr als 25 Jahre später steht nun Stefan E. vor Gericht.
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Das Beste von hier. Für Sie.

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