Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
So klingen Märchen
Waldeinsamkeit, Kobolde, eine klapprige Holzpuppe: Domonkos Héja und die Philharmoniker loten aus, was die Musik zum Thema hergibt – auch dank starker Solisten
Nicht immer sind die Mottos, die über den Sinfoniekonzerten der Augsburger Philharmoniker schweben, überzeugend passgenau. Manchmal tun sich die darunter aufgereihten Werke etwas schwer, gerade hier ihren Platz zu finden. Diesmal aber hat die dramaturgische Abteilung des Orchesters ganze Arbeit geleistet, denn was sind Humperdincks „Hänsel und Gretel“und Bartóks „Holzgeschnitzter Prinz“anderes als das titelgebende „märchenhaft“? Und dann stellte sich auch noch das dritte dargebotene Stück nicht nur durch Titel („Märchengestalten“) und Inhalt (fünf Porträts ebensolcher „Gestalten“) sinnfällig in die Reihe, ja entpuppte sich die Uraufführung gar als veritable Überraschung.
Dem 1969 geborenen Wolf Kerschek ist nämlich mit diesem Doppelkonzert der eher nicht so häufige Fall einer Komposition gelungen, die sich schon bei der ersten Hörbegegnung zugänglich gibt, ohne dabei als platte Schablonenmusik daherzukommen. Maßgeblich liegt das daran, dass Kerscheks Tonsprache im Jazz wurzelt, was ihr hinreichende Seriosität verschafft, sie aber zugleich auf akademische Kopfgeburten verzichten lässt. Gewiss, manchmal geraten auch Kerscheks Orchesterbilder arg nah ans Cinemascope-format, doch irgendein Cluster setzt dann wieder Saures gegen zu viel Süße. Merklich auch hatte der Komponist seinen Spaß mit den Märchengestalten: Melodieselig ziehen in den Geigen „Meerjungfrauen“vorüber, als „Dschinn“darf das Orchester tüchtig Wind machen, während das Solohorn als tumber „Riese“tief und knarzend daherstapft.
Der junge Tillmann Höfs ist der Solist am Waldhorn, ihm zur Seite steht sein Vater Matthias Höfs, bei den Philharmonikern in dieser Spielzeit Artist in Residence. Der Trompeter kommt mit einer ganzen Reihe von Instrumenten auf die Bühne im Kongress am Park. Eine Trompete in C und eine in Es, ein Diskanthorn – kleiner, aber in der Form ähnlich dem Waldhorn –, dazu eine Double Bell mit zwei übereinander gelegten Schallbechern. Eine Trompetenfamilie, die Matthias Höfs eine enorme Ausdruckspalette ermöglicht: mal weich und elegant perlend, ein andermal fleischig und dann auch explosiv, in Ausnahmefällen auch mal mit aggressivem Biss. Was bei diesem Vater-sohn-duo aber fast noch mehr beeindruckt als die Beherrschung der Instrumente, ist die souveräne, jegliche Selbstausstellung vermeidende Lässigkeit der solistischen Rede. Am Ende großer Applaus einer beeindruckten Hörerschaft.
Vorausgegangen war Engelbert Humperdincks Ouvertüre zur Oper „Hänsel und Gretel“. Generalmusikdirektor Domonkos Héja schickte die instrumentale Introduktion nicht nur in tiefromantische Hör- ner-waldeinsamkeit hinein, sondern kehrte auch ihre koboldhaften Seiten heraus, somit aufschlussreich die zwei Seiten der einen „märchenhaften“Medaille beleuchtend. Im zweiten Teil des Konzerts dann „Der holzgeschnitzte Prinz“, Béla Bartóks Ballettmusik zu einer simplen Märchenhandlung: Ein Prinz verknallt sich in eine Prinzessin, die will zunächst nichts von ihm wissen, sodass er sich einer Holzfigur bedient, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die Musik des Ungarn wurzelt in diesem mitten im Ersten Weltkrieg entstandenen Werk noch stark in der Spätromantik, mächtige Klangmassen wollen entfesselt sein, und so haben sich die Philharmoniker Verstärkung aus München von den dortigen Symphonikern geholt. Für die Aufführung drängen sich letztlich über 90 Musiker auf der Bühne – und finden dort ohne hörbare Nahtstellen zusammen.
Wie schon bei Bartóks zweiter, in der vorigen Spielzeit aufgeführten Ballettmusik „Der wunderbare Mandarin“laufen auch diesmal die Szenenanweisungen des Tanzspiels als Übertitel mit, ein Gewinn auch deshalb, weil das die grandiose Bildhaftigkeit der „Prinzen“-partitur unterstreicht. Dieses Gestische in der Musik Bartóks ist es auch, auf das sich sein Landsmann Héja ganz ausgezeichnet versteht. Die wechselvollen Gemütszustände der Protagonisten, das mal Zögernde, mal Unbekümmerte, das Lasziv-spielerische wie das Tiefbekümmerte, das alles lässt Héja aus dem tönenden Kontinuum hervorleuchten, haucht dadurch der Musik buchstäblich Seele ein. Organisch formt er die permanenten Tempo-, Takt- und Dynamikwechsel zum atmenden Ganzen, und wie sehr dieser Dirigent „drin“ist in diesem Werk, macht gerade auch jener Moment deutlich, als die hölzerne Puppe erstmals im Orchester ihren drastisch-klapprigen Auftritt hat und Héja, eh schon mit jeder Körperfaser die Musik mitmodellierend, im Takt regelrecht mitzustampfen beginnt – Otto Böhler, zur vorletzten Jahrhundertwende Hersteller unverkennbarer Scherenschnitte berühmter Musikerphysiognomien, hätte hier seine Freude gehabt.
Auch wenn – klitzekleiner Wermutstropfen – die Einleitung zum „Prinzen“etwas naturmystischer und weniger kraftstrotzend hätte ausfallen dürfen: Unterm Strich ist diese Aufführung ein weiteres Beispiel dafür, zu welch glücklicher Form die Zusammenarbeit von GMD und Orchester inzwischen gefunden hat. Jetzt fehlt, zur Komplettierung des Zyklus mit Bartóks musikdramatischen Werken, nur noch „Herzog Blaubarts Burg“. Das will man von dieser eingeschworenen Bartók-connection natürlich unbedingt auch noch hören.
Jetzt fehlt noch der letzte Streich