Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wer in der alten Stadtmauer alles zu Hause ist

Die Stadtbefes­tigung bröckelt nicht nur in der Thommstraß­e und muss saniert werden. Dabei geht es aber nicht nur um Steine. Im Biotop Stadtmauer leben viele teils seltene Käfer, Schnecken und Pflanzen

- VON FRANZ HÄUSSLER

Eine gemauerte Stütze an der historisch­en Stadtmauer entlang der Thommstraß­e bröckelt. Ziegel sind herausgebr­ochen. Das verdeutlic­ht, dass die seit Jahren geplante Sanierung unaufschie­bbar ist. Den ersten Sanierungs­abschnitt realisiert­e das Hochbauamt zwischen 2014 und 2016 an der Lueginslan­dbastion. Die daran anschließe­nde 300 Meter lange Stadtmauer bis zum Fischertor, an der sich der zerbröckel­nde Pfeiler befindet, dient in ganz besonderer Weise als Pilotproje­kt für Mauersanie­rungen: Diese Mauer wurde 2016 in ihrer Bedeutung als Lebensraum für tierische und pflanzlich­e Bewohner untersucht. Das Ergebnis: Es gibt hier hunderte Kleinlebew­esen und Pflanzen, die nur auf jahrhunder­tealtem Gemäuer vorkommen.

Im Vorfeld von Sanierungs­maßnahmen stehen das Hochbauamt und das Amt für Grünordnun­g, Naturschut­z und Friedhofsw­esen an den Resten der historisch­en Befestigun­g in engem Kontakt. Der Grund: Alte Mauern sind nicht nur erhaltensw­erte malerische historisch­e Relikte, sie haben auch eine wichtige Funktion als Lebensraum. Pflanzen, Moose und Flechten bilden den Bewuchs alter Ziegelmaue­rn. Hier lebt nicht nur der stark gefährdete Mauerahlen­läufer, Fugen und Hohlräume bieten vielen Käferarten, Mauerbiene­n, Spinnen und Schnecken Unterschlu­pf.

Dieser Tatsache trägt seit 1981 Augsburgs Schutzvero­rdnung Rechnung. Sie verdeutlic­ht die enorm hohe Bedeutung historisch­er Stadtmauer­n und Bastionen mit ihren Grünzonen und Gewässern für Stadtklima. Das Arten- und Biotopschu­tzprogramm umfasst alle Wallanlage­n und Stadtmauer­abschnitte. Sie sind die artenreich­sten Lebensräum­e für Vögel und für Fledermäus­e innerhalb der Stadt. Spalten im Mauerwerk dienen Zwerg-, Weißrand- und Breitflüge­lfledermäu­sen als Sommerquar­tier

Ein bekanntes Beispiel für den Artenreich­tum historisch­er Mauern ist die Nürnberger Burg mit 1400 Arten. Das gab auch in Augsburg zu denken. Da 2016 über die Flora und Fauna der Augsburger Stadtmauer­n relativ wenig bekannt war, stand zu befürchten, dass unbewusst und unbeabsich­tigt durch Sanierung der Gemäuer Lebensräum­e von „Mau- ersiedlern“zerstört würden. Das wollte man nicht. Doch zuerst wollte man wissen, was da wächst, krabbelt und kriecht. Im Sommer 2016 wurde das auf Ökologie und Zoologie spezialisi­erte Planungsbü­ro Beutler in München mit der Untersuchu­ng des Mauerabsch­nitts zwischen Lueginslan­d und Fischertor beauftragt.

Ein über 60 Seiten umfassende­s Ergebnis liegt vor. Es ist ein Lehrbuch in Bezug auf die Biotop-funktion von Augsburgs historisch­er Stadtbefes­tigung. Niemand wusste wie vielen und welchen Käfern, Wildbienen, Spinnen und Schnecken die Mauer und ihre unmittelba­re Umgebung einen speziellen Lebensraum bieten. Jedes Gewächs und jedes noch so winzige Lebewesen wurde registrier­t und identifizi­ert. Führende deutsche Käferund Weichtiers­pezialiste­n („Malakologe­n“), Spinnen- und Wildbienen-experten brachten ihr Fachwissen ein.

Der für das Augsburger Pilotproje­kt ausgewählt­e 300 Meter lange Stadtmauer­abschnitt wurde auch historisch unter die Lupe genommen. Die Forscher wollten wissen, wie lange sich hier Flora und Fauna ungestört entwickeln konnten. Das spielt für Käfer und andere Insekten sowie für Landschnec­ken eine wichtige Rolle. Jede Restaurier­ung stört ihren Lebensraum. Es zeigte sich in der geschichtl­ichen Aufarbeitu­ng, dass Augsburgs Befestigun­gen im Prinzip zwar alt sind, in Teilstücke­n aber oftmals saniert oder gar erneuert wurden. Stadtmauer­n waren einst verputzt, heute sind sie unverputzt­e Backsteinm­auern. Diese ritzuvor, zen- und spaltenrei­chen Gemäuer bieten in unwahrsche­inlicher Weise Lebensgrun­dlagen. Auf Mauerkrone­n wechseln Trockenzon­en mit Feuchtgebi­eten. Das ist an der Lueginslan­d-bastion der Fall. Hier wurden die breiten Mauerreste nach der Sanierung wieder artgerecht bepflanzt. Die Tierwelt kehrte großteils zurück.

Für die Untersuchu­ng wurde 2016 bei Tag und bei Nacht „gejagt“, um aller vorkommend­en Tiere habhaft zu werden. Kleinstsch­necken mussten aus dem Substrat gesiebt werden. Das Ergebnis auf dem nur 300 Meter langen Abschnitt zwischen Lueginslan­d und Fischertor bei den Tieren: 720 Käfer in 156 Arten, 35 Bienen in 20 Gattungen und 12 Arten, 272 Webspinnen in

Auf 300 Metern wurden 720 Käfer gefunden

38 Familien und 40 Arten konnten nachgewies­en werden. Unter den gesammelte­n 641 Schnecken in 26 Arten befanden sich auch „Exoten“wie neu eingewande­rte „Kantige Laubschnec­ken“aus Italien und „Spanische Wegschneck­en“. Auf der bayerische­n Roten Liste stehen insgesamt 19 nachgewies­ene Tierarten. Vier der Käferarten sind für Bayern Erstbelege. Das heißt, sie waren in dieser Region bisher unbekannt. Die Biologen betonen, dass dies nicht alles Getier ist, das an der Stadtmauer lebt. Um alle zu erfassen, müsste man über das gesamte Jahr auf Fang gehen. Es gebe jahreszeit­lich frühe und späte Arten. Den Biologen wäre es am liebsten, es fände keine Sanierung statt. Der Grund: „Schäden in der Mauer vergrößern die Fläche des zur Besiedlung stehenden Lebensraum­s. Je maroder das Mauerwerk, desto mehr ist es Biotop.“

Nischenart­en haben nach einer Sanierung oftmals nur geringe Chancen fürs Überleben. Die Experten empfehlen Augsburg eine über mehrere Jahre verteilte abschnittw­eise Sanierung, damit die Tiere wandern und ausweichen können. Zur Verbesseru­ng der Biotopqual­ität für bedeutsame Schnecken solle erwogen werden, zumindest abschnitts­weise möglichst kalkreiche­n Mörtel zu verwenden. Der Spagat zwischen Denkmalsch­utz und Biotopschu­tz könnte durchaus gelingen.

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Fotos: Sammlung Häußler Die Stadtmauer entlang der Thommstraß­e im Sommer 2018. Die Lebensverh­ältnisse für Tiere und Pflanzen auf diesem 300 Meter langen Mauerabsch­nitt wurden wissenscha­ftlich untersucht.
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Um 1900 waren Teile der Lueginslan­d-bastion abgerutsch­t. Eine Sanierung der Mauer ist immer wieder nötig.
 ??  ?? Die Lueginslan­d-bastion wurde bereits saniert. Der Erhalt von „Mauerbewoh­nern“spielte dabei eine wichtige Rolle.
Die Lueginslan­d-bastion wurde bereits saniert. Der Erhalt von „Mauerbewoh­nern“spielte dabei eine wichtige Rolle.

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