Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wer in der alten Stadtmauer alles zu Hause ist
Die Stadtbefestigung bröckelt nicht nur in der Thommstraße und muss saniert werden. Dabei geht es aber nicht nur um Steine. Im Biotop Stadtmauer leben viele teils seltene Käfer, Schnecken und Pflanzen
Eine gemauerte Stütze an der historischen Stadtmauer entlang der Thommstraße bröckelt. Ziegel sind herausgebrochen. Das verdeutlicht, dass die seit Jahren geplante Sanierung unaufschiebbar ist. Den ersten Sanierungsabschnitt realisierte das Hochbauamt zwischen 2014 und 2016 an der Lueginslandbastion. Die daran anschließende 300 Meter lange Stadtmauer bis zum Fischertor, an der sich der zerbröckelnde Pfeiler befindet, dient in ganz besonderer Weise als Pilotprojekt für Mauersanierungen: Diese Mauer wurde 2016 in ihrer Bedeutung als Lebensraum für tierische und pflanzliche Bewohner untersucht. Das Ergebnis: Es gibt hier hunderte Kleinlebewesen und Pflanzen, die nur auf jahrhundertealtem Gemäuer vorkommen.
Im Vorfeld von Sanierungsmaßnahmen stehen das Hochbauamt und das Amt für Grünordnung, Naturschutz und Friedhofswesen an den Resten der historischen Befestigung in engem Kontakt. Der Grund: Alte Mauern sind nicht nur erhaltenswerte malerische historische Relikte, sie haben auch eine wichtige Funktion als Lebensraum. Pflanzen, Moose und Flechten bilden den Bewuchs alter Ziegelmauern. Hier lebt nicht nur der stark gefährdete Mauerahlenläufer, Fugen und Hohlräume bieten vielen Käferarten, Mauerbienen, Spinnen und Schnecken Unterschlupf.
Dieser Tatsache trägt seit 1981 Augsburgs Schutzverordnung Rechnung. Sie verdeutlicht die enorm hohe Bedeutung historischer Stadtmauern und Bastionen mit ihren Grünzonen und Gewässern für Stadtklima. Das Arten- und Biotopschutzprogramm umfasst alle Wallanlagen und Stadtmauerabschnitte. Sie sind die artenreichsten Lebensräume für Vögel und für Fledermäuse innerhalb der Stadt. Spalten im Mauerwerk dienen Zwerg-, Weißrand- und Breitflügelfledermäusen als Sommerquartier
Ein bekanntes Beispiel für den Artenreichtum historischer Mauern ist die Nürnberger Burg mit 1400 Arten. Das gab auch in Augsburg zu denken. Da 2016 über die Flora und Fauna der Augsburger Stadtmauern relativ wenig bekannt war, stand zu befürchten, dass unbewusst und unbeabsichtigt durch Sanierung der Gemäuer Lebensräume von „Mau- ersiedlern“zerstört würden. Das wollte man nicht. Doch zuerst wollte man wissen, was da wächst, krabbelt und kriecht. Im Sommer 2016 wurde das auf Ökologie und Zoologie spezialisierte Planungsbüro Beutler in München mit der Untersuchung des Mauerabschnitts zwischen Lueginsland und Fischertor beauftragt.
Ein über 60 Seiten umfassendes Ergebnis liegt vor. Es ist ein Lehrbuch in Bezug auf die Biotop-funktion von Augsburgs historischer Stadtbefestigung. Niemand wusste wie vielen und welchen Käfern, Wildbienen, Spinnen und Schnecken die Mauer und ihre unmittelbare Umgebung einen speziellen Lebensraum bieten. Jedes Gewächs und jedes noch so winzige Lebewesen wurde registriert und identifiziert. Führende deutsche Käferund Weichtierspezialisten („Malakologen“), Spinnen- und Wildbienen-experten brachten ihr Fachwissen ein.
Der für das Augsburger Pilotprojekt ausgewählte 300 Meter lange Stadtmauerabschnitt wurde auch historisch unter die Lupe genommen. Die Forscher wollten wissen, wie lange sich hier Flora und Fauna ungestört entwickeln konnten. Das spielt für Käfer und andere Insekten sowie für Landschnecken eine wichtige Rolle. Jede Restaurierung stört ihren Lebensraum. Es zeigte sich in der geschichtlichen Aufarbeitung, dass Augsburgs Befestigungen im Prinzip zwar alt sind, in Teilstücken aber oftmals saniert oder gar erneuert wurden. Stadtmauern waren einst verputzt, heute sind sie unverputzte Backsteinmauern. Diese ritzuvor, zen- und spaltenreichen Gemäuer bieten in unwahrscheinlicher Weise Lebensgrundlagen. Auf Mauerkronen wechseln Trockenzonen mit Feuchtgebieten. Das ist an der Lueginsland-bastion der Fall. Hier wurden die breiten Mauerreste nach der Sanierung wieder artgerecht bepflanzt. Die Tierwelt kehrte großteils zurück.
Für die Untersuchung wurde 2016 bei Tag und bei Nacht „gejagt“, um aller vorkommenden Tiere habhaft zu werden. Kleinstschnecken mussten aus dem Substrat gesiebt werden. Das Ergebnis auf dem nur 300 Meter langen Abschnitt zwischen Lueginsland und Fischertor bei den Tieren: 720 Käfer in 156 Arten, 35 Bienen in 20 Gattungen und 12 Arten, 272 Webspinnen in
Auf 300 Metern wurden 720 Käfer gefunden
38 Familien und 40 Arten konnten nachgewiesen werden. Unter den gesammelten 641 Schnecken in 26 Arten befanden sich auch „Exoten“wie neu eingewanderte „Kantige Laubschnecken“aus Italien und „Spanische Wegschnecken“. Auf der bayerischen Roten Liste stehen insgesamt 19 nachgewiesene Tierarten. Vier der Käferarten sind für Bayern Erstbelege. Das heißt, sie waren in dieser Region bisher unbekannt. Die Biologen betonen, dass dies nicht alles Getier ist, das an der Stadtmauer lebt. Um alle zu erfassen, müsste man über das gesamte Jahr auf Fang gehen. Es gebe jahreszeitlich frühe und späte Arten. Den Biologen wäre es am liebsten, es fände keine Sanierung statt. Der Grund: „Schäden in der Mauer vergrößern die Fläche des zur Besiedlung stehenden Lebensraums. Je maroder das Mauerwerk, desto mehr ist es Biotop.“
Nischenarten haben nach einer Sanierung oftmals nur geringe Chancen fürs Überleben. Die Experten empfehlen Augsburg eine über mehrere Jahre verteilte abschnittweise Sanierung, damit die Tiere wandern und ausweichen können. Zur Verbesserung der Biotopqualität für bedeutsame Schnecken solle erwogen werden, zumindest abschnittsweise möglichst kalkreichen Mörtel zu verwenden. Der Spagat zwischen Denkmalschutz und Biotopschutz könnte durchaus gelingen.