Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
So leben obdachlose Frauen in Augsburg
Seit sechs Monaten gibt es in Pfersee ein Übergangswohnheim speziell für Frauen, die sonst wohl auf der Straße leben müssten. Wie Ilona Kramer. Die Rentnerin erzählt, warum sie plötzlich obdachlos wurde
Manchmal ist der Schritt in die Obdachlosigkeit erschreckend klein. Wie bei Ilona Kramer*. Die 63-Jährige arbeitete viele Jahre als Altenpflegerin im Jakobsstift in der Altstadt, ging dann krankheitsbedingt in Rente. Ein Brief änderte eines Tages alles. Seit zwei Jahren ist sie obdachlos. Kramer ist eine von 24 Frauen, die im neuen Übergangswohnheim in Pfersee leben. Das Haus ist ein Modell, mit dem die Stadt einen neuen Weg geht.
Auf dem Tisch im Aufenthaltsraum im Erdgeschoß steht ein Tablett mit belegten Semmeln. „Es ist von einer Frau, die in der Nähe wohnt“, erzählt Katja Mann, Leiterin des Hauses. Die Dame frage bei Bäckereien nach übrig gebliebenen Sachen und bringe diese für die Frauen vorbei. Allein diese Geste zeigt, dass das neue Übergangswohnheim bei Bürgern aus Pfersee angekommen ist. Im August 2018 hat es in der Stadtberger Straße eröffnet. Es ist das erste Heim in Augsburg speziell für obdachlose Frauen. Zuvor mussten sich diese mit Männern die Räumlichkeiten in der Spicherer-schule und im Heim in der Johannes-rösle-straße teilen.
Wie auch Ilona Kramer. Zwei Monate lebte die herzkranke Frau dort. „Das war schlimm“, erzählt sie. „Große Zimmer mit zehn Betten, es war dreckig.“Für Kramer, die Wert auf Sauberkeit legt, war das schwer erträglich. Umso mehr schätzt sie das neue Wohnheim. Das mehrstöckige Haus, das die Stadt angemietet hatte, wurde umgebaut. Nun gibt es fünf Wohneinteilungen. Sie bestehen jeweils aus Küche, Bad, einem Zweibett- sowie einem Vierbettzimmer. Das Dachgeschoss wird noch ausge- baut. Zutritt hat man über eine Pforte, die 24 Stunden besetzt ist. In dem Heim kommen nur Frauen unter, die in Augsburg wohnungslos wurden. Ihr Aufnahmeverfahren läuft über die Stadt. Ebenfalls neu ist: Der Sozialdienst katholischer Frauen (SKF) kümmert sich als Träger um die Betreuung der Frauen.
„Wir hatten bislang nie Sozialpä- in diesem Bereich. Jetzt muss man beobachten, auch vonseiten des Stadtrates, wie sich die Arbeit entwickelt“, sagt Sozialreferent Stefan Kiefer. Er zeigt sich mit dem Verlauf der ersten Monate „sehr zufrieden“. Als richtigen Schritt bezeichnet auch Martina Kobriger, Geschäftsführerin des SKF, die Kooperation. Gleichwohl habe man vom SKF Heimleiterin Katja Mann mit Katharina Meyer eine zusätzliche Sozialpädagogin zur Seite gestellt. „Die Situation im Übergangswohnheim ist diffiziler, als man sich vorgestellt hat“, gibt Kobriger zu. Die 47-jährige Katja Mann und Katharina Meyer, 31, wissen das am besten: Sie sind Ansprechpartnerinnen der Frauen, versuchen, diese emotional zu festigen und im Bürokratiedschungel zu unterstützen.
Bei vielen Klientinnen gehe es nicht nur um Obdachlosigkeit. Oft steckten vielschichtigere Probleme dahinter. „Sucht- und psychische Erkrankungen, Schulden, Zwangsräumungen, ein fehlendes soziales Netz, Haftentlassungen“, zählt Meyer auf. Manche Frauen seien in ihrem Zustand nicht fähig, selbstständig zu leben. Deshalb ist die Aufenthaltsdauer so unterschiedlich wie die Frauen selbst, von denen die älteste 79 Jahre alt ist.
„50 bis 60 Prozent leben bei uns fest, 20 bis 30 für ein paar Wochen, und nur die wenigstens sind für ein, zwei Nächte hier“, erzählt Heimleiterin Katja Mann. Der größte Wunsch von Klientin Ilona Kramer ist es, wieder in eigenen vier Wänden zu wohnen. Ihre Möbel hat sie noch. Sie lagern in einem Container. „Es sind schöne hochwertige Sachen“, sagt die ehemalige Altenpflegerin. Gemütlich habe sie es in ihrer 47 Quadratmeter großen Wohnung in Pfersee gehabt. 14 Jahre lebte sie darin – bis der Brief kam.
„Ich erhielt die Kündigung, weil das Haus abgerissen werden sollte“, erzählt sie. Kramer fand bislang nichts Neues. „Ich habe eine monatliche Rente von knapp über 300 Euro und erhalte Grundsicherung. Auch wenn mir der Staat eine Wohnung bezahlt, da winkt jeder Verdagogen mieter ab.“Ein Jahr lang kam die Rentnerin bei einer Freundin unter, „ungesichertes Wohnverhältnis“heißt das im Fachjargon. Schließlich blieb ihr nur noch die Obdachlosenunterkunft.
Ilona Kramer sei eine der wenigen Frauen, die problemlos selbstständig leben könnten, versichern Heimleiterin Mann und Sozialpädagogin Meyer. Nur: Irgendjemand müsse der Rentnerin eine Chance geben. Trotz des Schicksalschlags ist Kramer dankbar, dass sie ein Dach über dem Kopf gefunden hat. Sie kümmere sich um die 79-jährige Mitbewohnerin, ansonsten mache sie in dem Haus lieber ihr eigenes Ding. Vor allem bei Streit ziehe sie sich zurück. Denn Konflikte gibt es unter den Frauen immer wieder.
„Das ein oder andere Mal musste schon die Polizei wegen Übergriffen gerufen werden“, sagt Leiterin Mann. „Es waren aber keine massiven Vorfälle, eher Gerangel.“Meist ist der Zoff harmlos. Etwa wenn es um den einzigen Fernseher geht, der im Aufenthaltsraum steht. „Im Haus gab es eine kleine Fernsehmafia, die den Sender bestimmt hat“, berichtet Pädagogin Meyer. Das sei so weit gegangen, dass die Fernbedienung mit zum Einkaufen genommen wurde. Ilona Kramer interessiert das nicht. Sauer wird sie nur, sagt sie, wenn sie in Pfersee am Mehrparteienhaus mit ihrer früheren Wohnung vorbeigeht. Es sei immer noch nicht abgerissen. „Da hätte ich noch locker zwei Jahre drin wohnen können“, meint sie bitter. * Name geändert