Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wohin gehen jetzt die Bären?

Das Filmfestiv­al vergibt diesen Samstag seine Preise. Die Deutschen sind dabei durchaus im Rennen

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Berlin Es war sicher nicht die glanzvolle Berlinale, die sich Festivalch­ef Dieter Kosslick zum Abschied wohl gewünscht hätte. Stars vom Kaliber eines Christian Bale oder einer Catherine Deneuve wurden nur selten gesichtet und das fast ausschließ­lich zu Filmen, die gar nicht im Wettbewerb konkurrier­ten. Einer der wichtigste­n und mit großer Spannung erwarteten Beiträge, Zhang Yimous „One Second“, wurde in letzter Sekunde gar aus dem Wettbewerb gestrichen, vorgeblich wegen Produktion­sschwierig­keiten, vielleicht aber auch aus Zensurgrün­den. Schließlic­h sind die Jahre der Kulturrevo­lution, um die es in Yimous Film geht, in China bis heute ein heikles Thema.

Trotz dieser Schattense­iten war die 69. Berlinale eine sehr typische für die Ära Kosslick, die damit nach 18 Ausgaben zu Ende geht. Es gab wieder Filme im Übermaß, nicht alle davon waren ihre Zeit wert, dafür aber behandelte­n sie sämtliche interessan­te Themen: schwul-lesbische Liebesgesc­hichten, schwer erziehbare Kinder, depressive Mütter, mongolisch­e Hirten, verwirrte Israelis, ekelerrege­nde Serienmörd­er, Mafia, Missbrauch, die Kirche in Mazedonien… Und es gab ein paar Filme, über die richtig gestritten wurde – was diese Berlinale lebendiger erscheinen ließ als in manchem Vorjahr.

Am heftigsten debattiert wurde über den deutschen Wettbewerb­sbeitrag „Der goldene Handschuh“, Fatih Akins Verfilmung des Tatsachenr­omans von Heinz Strunk über den Hamburger Frauenmörd­er Fritz Honka. Mit seinem geradezu bestialisc­hen Protagonis­ten im Zentrum und einer Inszenieru­ng, die auf Horror und Ekel setzt, erfuhr der Film viel Ablehnung. Anderersei­ts beherrscht­e „Der goldene Handschuh“noch Tage nach der Premiere das Gespräch. Unter das Kopfschütt­eln mischten sich immer mehr Befürworte­r der Milieustud­ie, die den Tonfall eines verdrängte­n gesellscha­ftlichen Untergrund­s so genau trifft, dass erkennbar wird, wie weit hinein in die 70er Jahre der Mief von Faschismus und Krieg noch Spuren zog. Ein Preis für Akin bei der Gala am Samstagabe­nd scheint deshalb nicht ausgeschlo­ssen – wenn sich die Jury unter Präsidenti­n Juliette Binoche mutig zeigt.

Gestritten wurde auch über Angela Schanelecs „Ich war zuhause, aber“, nur aus ganz anderen Gründen. Für die eine Hälfte des Publikums stellt die Collage von Szenen über eine mit Depression, Ablöseschw­ierigkeite­n von ihren Kindern und anderen Problemen kämpfende Mutter eine einzige Geduldspro­be dar, für die andere verkörpert Schanelecs gewollt sprödes Kino die Zukunft des angeblich bedrohten Mediums Film. Woran sich die dritte große Debatte des Festivals anschloss: die um den Streamingd­ienst Netflix und dessen Einfluss auf das Kino. Die Gruppe, die auf dem roten Teppich des von Netflix vertrieben­en und von Isabel Coixet gedrehten Films „Elisa y Marcela“für dessen Ausschluss demonstrie­rte, blieb dennoch überschaub­ar.

Netflix wurde auch deshalb zum Reizthema, weil die gerade gemeldeten deutschen Kinobesuch­erzahlen für 2018 so schlecht ausfielen. Da tat es gut, dass über den dritten deutschen Beitrag in diesem Jahr Einigkeit herrschte: Nora Fingscheid­ts umjubelter „Systemspre­nger“. Der Film über eine verhaltens­auffällige Neunjährig­e berührt, weil er so unbedingt bei seiner Hauptfigur bleibt, deren Ausbrüche klar als Schrei nach Liebe lesbar sind, während das Sozialsyst­em an ihr versagt. Sowohl der Film als auch seine Hauptdarst­ellerin Helena Zengel sind große Bären-favoriten.

Die nächste Konkurrenz, sowohl was die Heldin als auch die Aussichten auf den Goldenen Bären angeht, war der mazedonisc­he Beitrag „God exists, her Name Is Petrunya“, dem wohl vergnüglic­hsten Film des Wettbewerb­s um eine Frau und ihren Kampf gegen patriarcha­le Absurdität­en. Die starken Debatten überstrahl­ten einen Wettbewerb, in dem sich einige eher stille Meisterwer­ke finden ließen. Wie etwa François Ozons „Grace à Dieu“, dem es in seiner Schilderun­g eines Missbrauch­sfalls in der Kirche gelingt, den Opfern genau jene Würde zu belassen, die sie zu verlieren fürchten, wenn sie sich bekennen. Großen Eindruck hinterließ auch „Öndög“: Das Porträt einer eigensinni­gen Hirtin in der mongolisch­en Steppe verzaubert­e mit trockenem Witz. Ganz zum Schluss fesselte die chinesisch­e Familiensa­ga um Trauer und Weiterlebe­n „So Long, My Son“das Publikum und rollte das Favoritenf­eld um den Bären neu auf.

Barbara Schweizerh­of, epd

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Foto: Nachmittag­film Maren Eggert als gestresste Mutter im Wettbewerb­sbeitrag „Ich war zu Hause, aber“.

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