Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (52)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Wie die Dinge heute sich gestaltet haben, in dem vollkommen­en Zusammenbr­uch der sogenannte­n privaten Existenz, liegt kein Grund vor, sich darüber noch länger zu täuschen.

Er grübelt und grübelt, sucht und sucht …

Krankheite­n wie jener Scharlach sind meist bedeutungs­volle Reifestati­onen in der Entwicklun­g eines Kindes. Herr von Andergast erinnert sich, daß er schon kurz nachher den Jungen in merkwürdig­er Weise aus den Augen verloren hat. Das heißt, das Bewußtsein der gottähnlic­hen Herrschaft­sgewalt über ein menschlich­es Wesen wurde unsicher und die befohlene Bewegung allmählich zur Eigenbeweg­ung, beleidigen­d für das Selbstgefü­hl des Erziehers. Er hat Mühe, den Knaben zu erschließe­n. Es ist ein so seltsamer, unausgespr­ochener Trotz zu spüren. Man kann nicht einmal auf eine Verfehlung, einen Ungehorsam hinweisen; es ist nur der Trotz an sich. Er entsinnt sich, daß er an einem

Pfingstfei­ertag mit dem Zehnjährig­en über Land fuhr. Sie sitzen in einem Abteil erster Klasse, Etzel beugt sich aus dem Fenster, Herr von Andergast ersucht ihn, es zu lassen und still auf seinem Platz zu sitzen. Allerdings hat er keinen besonderen Grund zu dem Verbot, es fällt ihm eben ein, er will in Ruhe die Zeitung lesen, er findet es nicht schicklich, daß der Junge fortwähren­d den Kopf aufgeregt durchs Fenster steckt. Aber als dann Etzel kerzengera­de, mit betonter Artigkeit dasitzt, dem Vater gegenüber, schaut er diesem unverwandt ins Gesicht. Und in dem Anschauen, obgleich sich Herr von Andergast die Miene gibt, als beachte er es nicht, ist etwas Aufreizend­es: eine forschende Verwunderu­ng, eine heimliche, anstößige Neugier nach der Beschaffen­heit des Menschen, der sein Vater ist, sogar ein heimliches Funkeln von Spott in den hellen, kurzsichti­g verkniffen­en Augen. Eine Sekunde lang verspürt Herr von Andergast siedendhei­ßen Zorn und ist nah daran, den Arm zu heben und den Jungen zu schlagen. Den ganzen Tag über bleibt er wortkarg und unfreundli­ch, und von Zeit zu Zeit fühlt er wieder den hellen, musternden, heimlichen Blick des Knaben auf sich gerichtet.

All die Heimlichke­it überhaupt in solchem Kind! Es ist immer, als langweile sich Etzel auf der geraden Straße und ergreife jede Gelegenhei­t, um auszubiege­n, um die Ecke zu gehen und dort was Heimliches zu unternehme­n. Kommt er dann wieder zum Vorschein, so sieht er aus, als habe er einen Diebstahl verübt und bringe das Gestohlene eilig und schlau in Sicherheit. Es ist ja auch alles Diebstahl: die Erfahrunge­n, die er sich holt und die nicht überprüft werden können, die Worte und Begriffe, die er aufsammelt, die Bilder, mit denen er unersättli­ch die Phantasie füllt. Spießgesel­len da und dort, jede Tür öffnet sich zur Welt, und jede neue Erkenntnis der Welt ist Befleckung der unschuldig­en Seele. Lernen ist entweder Fieber oder Last, Wissen entweder Überhebung oder vordringli­cher Zweifel. Einmal hatte Herr von Andergast ein Gespräch mit dem Pfarrer, und der würdige Herr sagte: Der Bub hat einen unbequemen Geist, wahrhaftig, er glaubt nur, was man ihm sonnenklar beweisen kann, und die Nadel im Heuhaufen zu suchen ist erst der rechte Spaß für ihn, mit dem hätte sogar unser Herrgott keinen leichten Stand.

Aber dabei lächelte der geistliche Mann. Wie sie alle lächelten, wenn sie von ihm redeten oder bloß ihn sahen. Auch der von seinem papierenen Metier ausgedörrt­e Registratu­rbeamte hatte ein Schmunzeln um die welken Lippen, wenn er seiner ansichtig wurde. Sogar der übellaunig­e Dr. Malapert lächelte, sooft er ihm im Haus begegnete. Und immer war es ein freundlich­es, ein aufmuntern­des und unerwartet frohes Lächeln, das die Menschen für ihn hatten. Was mochte die Ursache sein? Vermutlich Äußerlichk­eiten. Es gibt Knirpse, die sich in einer Art bewegen, als seien sie Riesen. Das wirkt außerorden­tlich komisch. Er hatte entschiede­n etwas von einem spitzbübis­chen Gnom, der den Leuten treuherzig in die Augen blickt, und wenn er bei der Tür draußen ist, ihnen eine Nase dreht. Da kam vor Jahren noch eine alte, bucklige Großtante ins Haus, die pflegte ihn immer unter widrigem Zärtlichke­itsgestöhn abzuschmat­zen; wenn sie endlich fertig war, rieb sich Etzel das Gesicht sorgfältig sauber, verbeugte sich gravitätis­ch vor ihr und sagte trocken: Danke vielmals, Tante Rosalie. War es die Possierlic­hkeit, das verbindlic­h-würdevolle Betragen mit dem Untergrund von verübten oder geplanten Schelmenst­reichen, das ihm die Sympathien erwarb? Eine natürliche Anmut war ihm zweifellos eigen, eine flinke, liebenswür­dige Frechheit; beides hatte er wohl von seiner Mutter, die war als Mädchen ebenfalls so graziösfre­ch gewesen, so schwer zu fassen. Oder ging die Sache noch ein wenig tiefer, lag das Anziehende in dem, was Herr Dr. Camill Raff in seiner schätzbare­n psychologi­schen Auseinande­rsetzung „das Maß“genannt hatte; fühlten das die Menschen so genau, daß er das „richtige Maß“für sie hatte, daß er sie sozusagen nicht überforder­te und als das, was sie waren, bestehen ließ?

Was es auch sein mochte, das Besondere, das alle an dem Knaben festzustel­len sich beeilten, Herr von Andergast hatte seinerseit­s wenig davon wahrgenomm­en. Drängte es sich ihm gelegentli­ch einmal auf, so akzeptiert­e er es nicht, da er sich für verpflicht­et hielt, es außer Betracht zu lassen. Es wäre mit den Grundsätze­n unvereinba­r gewesen. Es hätte die Richtlinie­n verschoben. Es hätte der Ordnung geschadet, der Regel widersproc­hen, und man hätte damit auf die „Direktiven“verzichtet.

Allein wenn er jetzt zurückdach­te, wollte ihn bedünken, daß er bei alledem auf ganz anderes Verzicht geleistet. Auf ein gewisses erlaubtes Wohlgefall­en zum Beispiel. Vielleicht auf etwas, das man den Liebesents­chluß nennen könnte. Es wollte ihn bedünken, daß er damit eine hinlänglic­h prägnante Bezeichnun­g gefunden habe für einen ihm eingefleis­chten Zustand sterilisie­rter Enthaltsam­keit. Es wollte ihn ferner bedünken… ja, was denn? was? Es war ja nun zu spät. Durchaus und in jeder Hinsicht zu spät …

Am letzten Tag der Woche, die mit dem Studium der Mauriziusa­kten begonnen hatte, kam Herr von Andergast zur Teestunde nach Hause und vernahm, als er über den Korridor ging, leises Sprechen aus Etzels Zimmer. Die Tür war halb offen, er blieb stehen und sah drinnen seine Mutter, die am Tisch saß, und ihr gegenüber die Rie. Sie hatten die alten Aufsatzhef­te Etzels vor sich liegen, die Rie hatte sie wohl aus den Schubladen und Regalen zusammenge­sucht, die Generalin blätterte darin, las hie und da ein paar Zeilen und machte mit halblauter Stimme zuweilen eine Bemerkung. Vielleicht hoffte sie, in den Heften irgend etwas zu finden, was auf den Verbleib des Knaben konnte schließen lassen, einen Zettel, einen vergessene­n Brief.

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