Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wenn der Faden reißt
Ein Kontaktabbruch mit einem nahe stehenden Menschen ist oft mit tiefen Verletzungen verbunden
Manchmal beenden Menschen scheinbar völlig unvermittelt die Beziehung zu denen, die ihnen am nächsten sind. „Selten“, schreibt die Journalistin Tina Soliman, die sich in mehreren Dokumentarfilmen und Büchern mit dem Phänomen Kontaktabbruch auseinandersetzte, habe sie „eine solche Fassungslosigkeit erlebt, wie bei Menschen, die plötzlich und ohne Erklärung von jemandem verlassen wurden, der ihnen nahe stand.“
Beim Grübeln über den Anlass einer schroffen Trennung stellt sich aber oft heraus, dass es eine Vorgeschichte gab. Ungeschickte Bemerkungen, kleine Sticheleien, Versäumnisse oder Zurückweisungen können heftiger wirken, als es der Betroffene zeigen will und kann. „Ein Kontakt wird meistens aus einer Notsituation heraus abgebrochen“, betont die Berner Psychoanalytikerin Katharina Ley. „Weil man so gekränkt, so verletzt ist, denkt man: Der Kontaktabbruch bringt mir Ruhe. Aber das ist oft nicht der Fall“. So könne das Beziehungsproblem im besten Fall verdrängt werden. „Das Grundproblem bleibt, denn durch die Funkstille ist nichts beendet, und beide, Abbrecher wie Verlassener, bleiben innerlich miteinander beschäftigt“, schreibt Tina Soliman. Die subjektiv als bedrängt empfundene Situation der Betroffenen stimmt dabei meist nicht mit der Wahrnehmung der verlassenen Angehörigen überein. Nachdem die Familie der Controllerin Elke (Name geändert), die sich auch um offene Rechnungen des verschwundenen Bruders kümmerte, von ihm nie eine Erklärung bekommen hatte, erreichten sie lediglich Äußerungen über Dritte. „Daraus haben wir verblüfft festgestellt, dass er sich als Opfer fühlt“, sagt Elke über den Bruder, der schon immer dazu geneigt habe, andere für sein Schicksal verantwortlich zu machen.
Wenn es zu einem Kontaktabbruch komme, sei das auch für die Weggehenden immer etwas Unglückliches, sagt Katharina Ley, weil sie sich selbst einen Teil ihrer Wurzeln abschneiden. Manchmal scheint gerade ein solch radikaler Schritt die einzige Möglichkeit zu sein, sich aus einer bedrückenden Situation zu befreien.
Eva, Mitte der 60er Jahre geboren, wuchs die ersten Jahre bei den Großeltern auf. Als die Eltern sie zu sich nehmen konnten, begann eine Leidenszeit bei einem jähzornigen, prügelnden Vater und einer Mutter, die ihre Kinder nicht beschützte, sondern sogar noch dafür sorgte, dass jene und nicht sie selbst die Wut des Mannes abbekamen. „Ich war durch diese Erziehung ein gebrochener Mensch“, sagt Eva heute.
Während der Ausbildung gelang es Eva, sich ein eigenes Leben aufzubauen. „Es war lange Zeit so, dass ich gedacht habe, ich krieg’ noch Zuwendung, Liebe, eine gewisse Anerkennung“, berichtet sie. Doch nachdem die Eltern ihre selbst eingerichtete Wohnung und ihre neue Frisur gesehen hatten und der Vater nur herumgebrüllt hatte, beschloss sie: „Das tu’ ich mir nicht mehr an“. Seit jenem Tag vor mehr als zwanzig Jahren hatte Eva praktisch keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern, nur mit Großmutter und Bruder blieb sie in Verbindung. Auf Anraten einer Therapeutin formulierte sie später noch einmal ihre Gründe für den Abbruch in einem Brief, der aber unbeantwortet blieb. Die Eltern hätten dadurch ihr ganzes Leben infrage gestellt gesehen, erfuhr sie später.
Eine Wiederannäherung ist dennoch in vielen Fällen möglich. Sie gelinge vor allem unter Geschwistern, sagt Katharina Ley. „Irgendwann gibt’s da eine Sehnsucht: Das ist doch eigentlich meine Schwester, das ist doch eigentlich mein Bruder!“
Wenn das nicht gelinge, sei es aber besser, man verabschiede sich. Elke hat ihr eigenes Ritual gefunden, mit dem Verlust des Bruders umzugehen. Jedes Jahr schreibt sie ihm zum Geburtstag eine E-mail mit einem Bericht über das, was in der Familie im letzten Jahr passiert ist. „Nach großen Kraftanstrengungen kam ich zur Erkenntnis, dass mir nur bleibt, seine Entscheidung zu akzeptieren. Er hat diesen Teil seines Lebens beendet.“