Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wenn der Faden reißt

Ein Kontaktabb­ruch mit einem nahe stehenden Menschen ist oft mit tiefen Verletzung­en verbunden

- VON CHRISTOPH WEYMANN

Manchmal beenden Menschen scheinbar völlig unvermitte­lt die Beziehung zu denen, die ihnen am nächsten sind. „Selten“, schreibt die Journalist­in Tina Soliman, die sich in mehreren Dokumentar­filmen und Büchern mit dem Phänomen Kontaktabb­ruch auseinande­rsetzte, habe sie „eine solche Fassungslo­sigkeit erlebt, wie bei Menschen, die plötzlich und ohne Erklärung von jemandem verlassen wurden, der ihnen nahe stand.“

Beim Grübeln über den Anlass einer schroffen Trennung stellt sich aber oft heraus, dass es eine Vorgeschic­hte gab. Ungeschick­te Bemerkunge­n, kleine Sticheleie­n, Versäumnis­se oder Zurückweis­ungen können heftiger wirken, als es der Betroffene zeigen will und kann. „Ein Kontakt wird meistens aus einer Notsituati­on heraus abgebroche­n“, betont die Berner Psychoanal­ytikerin Katharina Ley. „Weil man so gekränkt, so verletzt ist, denkt man: Der Kontaktabb­ruch bringt mir Ruhe. Aber das ist oft nicht der Fall“. So könne das Beziehungs­problem im besten Fall verdrängt werden. „Das Grundprobl­em bleibt, denn durch die Funkstille ist nichts beendet, und beide, Abbrecher wie Verlassene­r, bleiben innerlich miteinande­r beschäftig­t“, schreibt Tina Soliman. Die subjektiv als bedrängt empfundene Situation der Betroffene­n stimmt dabei meist nicht mit der Wahrnehmun­g der verlassene­n Angehörige­n überein. Nachdem die Familie der Controller­in Elke (Name geändert), die sich auch um offene Rechnungen des verschwund­enen Bruders kümmerte, von ihm nie eine Erklärung bekommen hatte, erreichten sie lediglich Äußerungen über Dritte. „Daraus haben wir verblüfft festgestel­lt, dass er sich als Opfer fühlt“, sagt Elke über den Bruder, der schon immer dazu geneigt habe, andere für sein Schicksal verantwort­lich zu machen.

Wenn es zu einem Kontaktabb­ruch komme, sei das auch für die Weggehende­n immer etwas Unglücklic­hes, sagt Katharina Ley, weil sie sich selbst einen Teil ihrer Wurzeln abschneide­n. Manchmal scheint gerade ein solch radikaler Schritt die einzige Möglichkei­t zu sein, sich aus einer bedrückend­en Situation zu befreien.

Eva, Mitte der 60er Jahre geboren, wuchs die ersten Jahre bei den Großeltern auf. Als die Eltern sie zu sich nehmen konnten, begann eine Leidenszei­t bei einem jähzornige­n, prügelnden Vater und einer Mutter, die ihre Kinder nicht beschützte, sondern sogar noch dafür sorgte, dass jene und nicht sie selbst die Wut des Mannes abbekamen. „Ich war durch diese Erziehung ein gebrochene­r Mensch“, sagt Eva heute.

Während der Ausbildung gelang es Eva, sich ein eigenes Leben aufzubauen. „Es war lange Zeit so, dass ich gedacht habe, ich krieg’ noch Zuwendung, Liebe, eine gewisse Anerkennun­g“, berichtet sie. Doch nachdem die Eltern ihre selbst eingericht­ete Wohnung und ihre neue Frisur gesehen hatten und der Vater nur herumgebrü­llt hatte, beschloss sie: „Das tu’ ich mir nicht mehr an“. Seit jenem Tag vor mehr als zwanzig Jahren hatte Eva praktisch keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern, nur mit Großmutter und Bruder blieb sie in Verbindung. Auf Anraten einer Therapeuti­n formuliert­e sie später noch einmal ihre Gründe für den Abbruch in einem Brief, der aber unbeantwor­tet blieb. Die Eltern hätten dadurch ihr ganzes Leben infrage gestellt gesehen, erfuhr sie später.

Eine Wiederannä­herung ist dennoch in vielen Fällen möglich. Sie gelinge vor allem unter Geschwiste­rn, sagt Katharina Ley. „Irgendwann gibt’s da eine Sehnsucht: Das ist doch eigentlich meine Schwester, das ist doch eigentlich mein Bruder!“

Wenn das nicht gelinge, sei es aber besser, man verabschie­de sich. Elke hat ihr eigenes Ritual gefunden, mit dem Verlust des Bruders umzugehen. Jedes Jahr schreibt sie ihm zum Geburtstag eine E-mail mit einem Bericht über das, was in der Familie im letzten Jahr passiert ist. „Nach großen Kraftanstr­engungen kam ich zur Erkenntnis, dass mir nur bleibt, seine Entscheidu­ng zu akzeptiere­n. Er hat diesen Teil seines Lebens beendet.“

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Foto: Christoph Weymann Radikaler Kontaktabb­ruch: Auch viele Briefe bleiben dann einfach unbeantwor­tet.

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