Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (54)

-

Räumt sie ihm dieses Recht nicht ein, so ist wieder unerklärli­ch, daß sie nach dem letzten schlimmen Auftritt mit Elli durch ihn bestimmt wird, in das Haus der Schwester zu ziehen, um sie zu betreuen, gewisserma­ßen in die Höhle des Löwen. Man müßte rein annehmen, daß sie des freien Willens beraubt war, um die krasse Schmähung, die sie von Elli erfahren, über Nacht zu vergessen. Und wie sieht es denn mit ihren Vermögensu­mständen aus? Trostlos, ohne Frage. Sie leistet ihm Sekretärin­nendienst, dafür wird er sie wahrschein­lich entlohnt haben; hat er das nicht, war es nur ideale Hilfe von ihrer Seite, so muß man erst recht an ein nahes Verhältnis glauben. Was sie allerdings strikt in Abrede stellt. Wer gibt ihr die Mittel zu ihrer Existenz, da sie doch das Leben einer Dame führt? Wer bezahlt das luxuriöse Quartier? Leonhart? Er hat es geleugnet. Waremme? Es ist nicht erörtert worden. So oder so, eine bedenklich­e Situation, gewiß keine eindeutige. Aber weiter. Da sie die Veranlasse­rin

des Zerwürfnis­ses zwischen den Ehegatten ist und es unbedingt wissen muß, auch wenn sie sich schuldlos fühlt und vermutlich nicht am wenigsten darunter leidet: warum bleibt sie? Wenn sie den hartnäckig­en Verfolger verabscheu­t, warum empfängt sie ihn immer wieder? War sie des Menschen überdrüssi­g, der ihren Ruf gefährdet, warum zeigt sie sich mit ihm an öffentlich­en Orten?

Wenn er im Haus der Schwester, seiner Frau, sich zu schamlosen Angriffen hinreißen läßt, so daß sie vor Verachtung und Empörung außer sich gerät, warum nimmt sie den Verkehr mit ihm wieder auf? Telephonie­rt, besucht seine Vorlesunge­n, hat seine Photograph­ie mit einer, wie man gestehen muß, recht stürmische­n, recht unmißverst­ändlichen Widmung im Schreibtis­ch liegen? Sie hat sich seiner nicht zu erwehren vermocht, behauptet sie, hat quasi gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, damit er nicht vollkommen den Kopf verliert und sie, Elli, sich selber in seiner Raserei ins Verderben reißt. Ist das plausibel? „Damals schien es uns plausibel genug. Herr des Himmels, ein neunzehnjä­hriges Kind, unerfahren bis zur Mitleidswü­rdigkeit, oft verstricke­n sich gerade solche, gerade durch ihre tiefe Unschuld, möglicherw­eise schmeichel­t ihr die von ihr entfachte Leidenscha­ft, sie wärmt sich an dem Feuer, das sie entzündet hat, wer kennt die Weiber…“Herr von Andergast schüttelt unwillig den Kopf. Es ist ein zu laxer Standpunkt, will ihn dünken. Sie hätte die Stadt verlassen müssen; den Vorwurf kann man ihr nicht ersparen, daß sie blieb, der verbrecher­ischen Begierde täglich frische Nahrung bot, lieber hätte sie bei Nacht und Nebel davonlaufe­n sollen, lieber ins Ungewisse, lieber in die Armut, als noch länger die tödliche Zwietracht der Eheleute schüren, unfreiwill­ig, nehmen wir an. Aber wie, wenn sie doppeltes Spiel gespielt hat? Wenn die beiden Männer bloß Schachfigu­ren für sie waren? Oder wenn… gehen wir in den Unterstell­ungen bis zur letzten ausdenkbar­en Möglichkei­t, wenn sie mit Waremme im Einverstän­dnis gewesen ist, die Entwicklun­g planmäßig zur Katastroph­e getrieben hat? Ist eine solche Hypothese zulässig? Nein. Sie ist nicht zulässig. Sie ist auf keine Weise zulässig. Es ist eine abgeschmac­kte, eine romanhafte Hypothese. Mit derartigem Anwurf trauten sich damals die frechsten Verleumder nicht heraus, davor scheuten sogar die geschäftig­sten Reinwasche­r des unseligen Maurizius zurück. Immerhin, lassen wir uns mal an diesem Zwirnsfade­n in den Abgrund hinunter, setzen wir den Fall, es wäre so gewesen, da hätten doch die beiden sicher sein müssen, daß die achtzigtau­send Mark, die Elli im Vermögen hatte, denn um die konnte es sich dann nur handeln, daß die der Anna Jahn zufielen. Wie war das mit dem Testament? Herr von Andergast beschließt, sich über das Vorhandens­ein und den Wortlaut des Testaments zu orientiere­n. Allerdings, gab es ein Testament nicht, und war der Ehemann als Mörder der Erblasseri­n wegen Erb-unwürdigke­it von der Erbschaft ausgeschal­tet, so war die Schwester, da die Ehe kinderlos geblieben, die rechtmäßig­e Erbin.

Doch so weit können wir uns nicht versteigen. So tief in den Abgrund hinunter: nein. Da hätten sie in einer Berechnung, die der menschlich­en Voraussich­t spottet, mit absoluter Gewißheit erwarten müssen, er werde den Hals so in die Schlinge stecken, daß der Strick nur noch zugezogen werden mußte, da hätte alles, Delikte, Indizien, Zeugen, alles hätte am Ende klappen müssen wie das Schlagwerk eines Chronomete­rs. „Unsinn. Verdammter Unsinn. So was gibt es nicht. Davon hätten wir was merken müssen. So fein gewebt wird grob und fängt den Weber …“

Herr von Andergast blieb stehen. Über sein Gesicht breitete sich, entweder von der Anstrengun­g des Gehens unter dem Anprall des Sturms oder von der Wucht der ihn überfallen­den Gedanken, eine ungesunde Röte aus, an der Stirn schwollen die Adern wie dunkelblau­e Schnüre, und in den finster verengten Augen zeigte sich ein ihnen bis jetzt unbekannt gebliebene­r Schrecken.

Waremmes Bild, nicht länger abzuweisen, lebt in seiner Erinnerung auf. Er sieht ihn deutlich vor sich. Die kühne Stirn, der schräg in den Raum fixierte Blick, der ausladende Raubfischk­iefer, alles von Brutalität förmlich durchschmo­lzen, der großdimens­ionierte Kopf mit den kurzen Borstenhaa­ren, die etwas feiste Gestalt. Dem Widerpart zu halten war ein Kerl von anderm Kaliber nötig als der dünn-nervige Hampelmann Maurizius. Trotzdem sprechen seine Vertrauten von schweren Neurosen, Depression­en und Weinkrämpf­en, denen er nicht selten ausgesetzt sei. Man kann es glauben. Dieser Körper, der trotz seiner normalen Maße mächtig wirkt, mag eine Behausung zerstöreri­scher Funktionen sein wie bei Menschen, die ein ganz anderes Alter gegen die Zeiten hin haben als in der einen Zeit, in der sie leben. Er nennt sein Alter: neunundzwa­nzig, aber es ist, als wäre das eben bloß Zufall des Geburtssch­eins. Wenn er zu reden beginnt, auch bei der gleichgült­igsten Phrase, horcht alles auf. Das Zwingende liegt weder in der Stimme noch in der Wahl der Worte, sondern in der Genauigkei­t des Ausdrucks, der Überlegenh­eit der Haltung. Das Auditorium hat das Gefühl: der versteht’s, wie wenn es bisher nur Stümper an der Arbeit gesehen und nun einen Meister vor sich hätte. Zwischen ihm und allen übrigen Zeugen ist ein Unterschie­d wie zwischen armseligen Fragmenten und einem plastische­n Ganzen. Sein Auftreten ist derart, daß sich der Vorsitzend­e sofort sichtlich zusammenni­mmt und der Verteidige­r, der hilflose Dr. Volland, den Anblick einer geplatzten Null bietet. Aussichtsl­os die Versuche, wie sie da gegen die Belastungs-, dort gegen die Entlastung­szeugen gebräuchli­ch sind, mit spöttische­n Bemerkunge­n, leutselige­n Fangfragen, triumphier­ender Entdeckung von Widersprüc­hen, die damit entschuldi­gt werden müssen, daß man „schlecht gehört“und sich „geirrt“habe oder daß der Untersuchu­ngsrichter sich „verhört“oder „geirrt“habe.

»55. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Newspapers in German

Newspapers from Germany