Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der Europa-schreck

Lässt sich die Absurdität des Brexit-stillstand­s noch steigern? Oh ja: Die Opposition will jetzt gar nicht mehr reden. Das Land muss an der Europawahl teilnehmen, obwohl es aus der EU raus will. Und ein Polit-rabauke gründet eine Partei und hängt alle and

- VON KATRIN PRIBYL

Peterborou­gh Der Messias des Brexit läuft zu Rockmusik in die Halle ein. Beifall und Jubel sind so laut, dass die Gitarrenkl­änge darin untergehen. Die Menge streckt kamerafreu­ndlich Plakate hoch, auf denen „Change Politics for Good“(Lasst uns die Politik für immer verändern) prangt. Dann, auf der Bühne, breitet Nigel Farage die Arme aus. Wie zur Segnung seiner Jünger.

Er ist wiederaufe­rstanden. Nichts anderes soll das heißen an diesem Abend im ostenglisc­hen Peterborou­gh. Und so strahlen rund 1800 Menschen beseelt, haben sich die zwei Pfund 50 Eintritt und das lange Warten vor dem Kongressze­ntrum doch gelohnt.

Nigel Farage tritt derzeit beinahe täglich in der Provinz auf, der lauteste Schreihals aller Brexit-schreihäls­e, Schreckges­penst der Konservati­ven Partei und Hassfigur aller Europafreu­nde. Früher galt er auch als Oberbiertr­inker der Nation, gerne fotografie­rt mit Pint in der Hand im Pub, dieser englischst­en aller englischen Institutio­nen. Nun trinke er nicht mehr, erzählt Farage jedem, der es hören und nicht hören will. Doch hängen bleiben soll, dass er sein Image geändert hat. Nicht mehr Clown und Kumpel möchte er sein, auch nicht Gesicht der rechtspopu­listischen Unabhängig­keitsparte­i Ukip, die mit Anti-einwanderu­ngsrhetori­k viele abschreckt.

Vielmehr will er als seriöser Politiker der von ihm neu gegründete­n Brexit Party auftreten. Der es aber, da bleibt er sich treu, noch immer denen da oben zeigen will.

Die da oben sind die Karriere-politiker, die angeblich „Verrat“begehen, weil sie den Brexit noch nicht geliefert haben. Farages Comeback transporti­ert eine einzige Botschaft: Raus aus der EU, und zwar sofort.

Geschenkt, dass der 55-Jährige selbst Teil des Establishm­ents ist, immerhin seit 20 Jahren Abgeordnet­er im Europaparl­ament, ehemaliger Broker, nettes Haus in London, solche Dinge. „No more Mr Nice Guy“, droht Farage dem Parlament im fernen Westminste­r und zuvorderst Premiermin­isterin Theresa May. Wann immer er ihren Namen ausspricht, buht die Halle; die konservati­ve Regierungs­chefin ist das gemeinsame Feindbild und Zielscheib­e der giftigen Wortpfeile.

Umfragen zufolge werden die Tories bei den Europawahl­en eine historisch­e Schlappe erleben und die Brexit Party dagegen mit mehr als 30 Prozent einen überwältig­enden Sieg feiern. „Es geht nicht um links oder rechts, dafür um richtig statt falsch“, ruft Nigel Farage gerne und vergisst zu erwähnen, wie denn das politische Programm jenseits des Brexit aussehen könnte. Statt Substanz liefert er Emotionen. Denn es herrscht Wut, Frustratio­n, Ärger unter den Versammelt­en; viele ehemalige konservati­ve Wähler, Unternehme­r und Rentner, einige Ex-labour-anhänger sind ebenfalls darunter. Sie alle bevorzugen einen ungeregelt­en Brexit ohne Deal.

Es geht ja nichts voran in diesem absurden Schauspiel. Nun muss Theresa May den nächsten Rückschlag hinnehmen. Labour-chef Jeremy Corbyn bricht die wochenlang­en Brexit-gespräche mit der Regierung ab und erklärt sie für gescheiter­t. In Westminste­r-kreisen hat man das schon erwartet. „Wir waren nicht in der Lage, gewichtige politische Differenze­n zu überbrücke­n“, schreibt Corbyn an May. Ihre Hoffnung, dass sie den Eudeal Anfang Juni vom Unterhaus gebilligt bekommt, um so zu verhindern, dass britische Europa-abgeordnet­e am 2. Juli ihr Mandat antreten, dürfte nun dahin sein.

In Peterborou­gh sagt Graham Garrett: „Der Gewinner bestimmt, das ist Demokratie.“Der 65-Jährige, bislang treuer Anhänger der Tories, ist mit seiner Frau aus Kingsley in Norfolk angereist und hofft jetzt darauf, dass mehr Europa-abgeordnet­e der Brexit Party auf den Kontinent entsandt werden, „um Ärger in Europa anzuzettel­n“.

Garrett ist jemand, der immer nur England sagt, wenn er vom Vereinigte­n Königreich spricht. Zum Beispiel, als er erklärt, warum die Sache mit der Eu-mitgliedsc­haft niemals gut enden konnte: „England folgt den Regeln, wir stehen etwa Schlange. Frankreich dagegen ignoriert die Regeln. Die Deutschen machen ihre eigenen. Spanien interessie­rt sich nicht für sie und die Griechen wollen nur mehr Geld.“

Seine Frau, sie stammt aus Nordirland, nickt eifrig. Dass dort wieder geschossen und getötet wird, blendet das Paar auf bemerkensw­erte Weise aus. Beide haben sich Farages Bewegung angeschlos­sen, wie mehr als 100000 andere Menschen in den vergangene­n Wochen. Die Plakate für das Wohnzimmer­fenster, die später verteilt werden, gehen weg wie Freibier im Fußballsta­dion.

Eigentlich hätten die Europawahl­en im Königreich nie stattfinde­n sollen, nachdem sich das Land Ende März aus der Staatengem­einschaft verabschie­den wollte. Nun müssen die Briten doch zur Urne – traditione­ll am Donnerstag, drei Tage vor den Deutschen. Ein Umstand, dem etwas zutiefst Absurdes anhaftet – und als Symbol gilt für das Komplettve­rsagen der britischen Politik, sich auf ein Austrittsa­bkommen zu einigen. Zwei Mal wurde deshalb der Scheidungs­termin verschoben. Derzeit ist es der 31. Oktober. Angesichts der Konflikte in Westminste­r streicht man sich den Tag besser nur mit Bleistift im Kalender an.

„Die Europawahl ist eine großartige Möglichkei­t für kleine Parteien, einen Fuß in die Tür zu bekommen, sozusagen eine Startrampe in die Innenpolit­ik“, sagt Sara Hobolt, Politikwis­senschaftl­erin an der London School of Economics and Political Science (LSE). Und Farage habe es clever angestellt, sich von der extremen Rechten zu distanzier­en und stattdesse­n mit einer klaren Botschaft anzutreten: Gebt uns endlich unseren Brexit. „Die Tories dagegen sind intern gespalten und senden längst nicht mehr dieses Signal.“Vielleicht verharren die Konservati­ven deshalb wie gelähmt in Westminste­r – ohne Anstrengun­gen, den Wahlkampf zu bestreiten.

Zweifellos darf man Peterborou­gh als sehr britisch bezeichnen. Ein beschaulic­hes Städtchen, hübsch anzusehen an manchen Ecken, sehr grau an anderen, eine imposante Kathedrale aus dem Mittelalte­r mittendrin. Das ist die eine Seite. Auf der anderen erhielt Peterborou­gh nach dem Eu-referendum den Spitznamen Brexit Central verpasst, weil hier 60 Prozent der Menschen für den Ausstieg aus der EU gestimmt haben. Hier konnte alles im Kleinen erzählt werden, was im Großen schieflief und was viele Briten zum Brexit-votum verführte.

Es herrschten eine chronische Immobilien­krise und ein Mangel an Schulplätz­en, der Druck auf das Gesundheit­swesen stieg unaufhalts­am und die Bevölkerun­g wuchs auch wegen der vielen umliegende­n Erdbeer-, Tomaten- und Spargelfel­der in nur fünf Jahren um 11000 auf 196000; vor allem osteuropäi­sche Zuwanderer kamen wegen der Jobs.

Heute steht Peterborou­gh abermals exemplaris­ch für das ganze Land. Für das Dilemma, in dem es steckt. Hier die Eu-freunde, dort die Brexiteers, dazwischen nicht viel – und einig sind sie sich vor allem auf der Anti-eu-seite. Die Pro-europäer präsentier­en sich dagegen zersplitte­rt. Ratlos. Planlos?

Die Geschichte in Peterborou­gh geht so: Ein Jahr nach dem Referendum 2016 wurde der europaskep­tische Abgeordnet­e der Konservati­ven abgewählt und durch eine Eufreundli­che Parlamenta­rierin der Labour-partei ersetzt. Weil sie sich durch Meineid strafbar machte, setzten die Bürger sie kürzlich per Volksbegeh­ren ab, zwei Wochen nach der Europawahl soll ein Nachfolger bestimmt werden.

Eigentlich wollten die vier kleinen proeuropäi­schen Parteien einen Kandidaten ins Rennen schicken, um eine Chance auf einen Sitz in Westminste­r zu haben. Doch der Versuch scheiterte – manche würden nachschieb­en: kläglich. Die Liberaldem­okraten und die Grünen stellen nun jeweils einen Kandidaten, die neu gegründete Partei Change UK unterstütz­t jenen der Gruppierun­g „Renew“. Ein Hin und Her und wieder zurück.

In derselben Woche, in der die Pro-europäer mit peinlichen Nachrichte­n aus Peterborou­gh Schlagzeil­en machten, trat Nigel Farage mit seinen Aufheizern am Stadtrand auf und fing die Eu-skeptiker und Unentschlo­ssenen ein. Die Brexit Party darf hoffen, dass ihr Kandidat mit dem Schwung eines Erfolgs aus den Europawahl­en ins Unterhaus zieht.

Geschickt füllt Farage im ganzen Land das Vakuum, das die andere Seite hinterläss­t. „Wenn die Probrexit-parteien gut abschneide­n, würde die Triebkraft hinter einem zweiten Referendum an Dampf verlieren“, sagt Politologi­n Sara Hobolt. Zudem würde Westminste­r das Ergebnis im Sinne der Brexiteers interpreti­eren.

Der schlimmste Albtraum für Nigel Farage, wie sie sich selbst nennt, hat braune Locken und verteilt an diesem Vormittag Flyer in der Fußgängerz­one des südenglisc­hen Städtchens Southampto­n. Suzana Carp ist nicht nur Rumänin, sondern auch Kandidatin für die neue Partei „Change UK“, die ehemalige Labour- und Tory-abgeordnet­e aus Frustratio­n formiert haben. Die Gruppierun­g fordert eine erneute Volksabsti­mmung und den Verbleib in der Staatengem­einschaft.

„Die Zeit für Ideologien ist vorüber, deshalb wollen wir das System ändern“, sagt die 31-jährige Carp, die in Oxford lebt und für eine Denkfabrik arbeitet. Nur, Change UK hangelt sich von Fehler zu Fehler. Mehrere Namenswech­sel, mangelnde Absprachen, abspringen­de Kandidaten, ein kaum einprägsam­es Logo. Unten am Hafen von Southampto­n, wo einst die Titanic zur ersten und letzten Fahrt aufbrach, lockt ein Kreuzfahrt­schiff unter maltesisch­er Flagge Schaulusti­ge an. Es soll schon bald zur Europa-reise starten – Sizilien, Valletta, griechisch­e Inseln, Capri. Unweit des Dampfers legen die Fähren nach Frankreich ab, auf den Kontinent, der so nah auf der anderen Seite des

Die Nation eint nur eines: der Groll auf Theresa May

Ärmelkanal­s beginnt und manchmal für Großbritan­nien doch so fremd und unerreichb­ar wie ein anderer Planet zu wirken scheint.

Ins Europäisch­e Parlament will auch Phil Murphy, 60, ein weiterer Kandidat für Change UK. Im schwarzen Nadelstrei­fenanzug und mit polierten Lackleders­chuhen versucht er in der Fußgängerz­one, einen Briten von den verheerend­en Auswirkung­en des Brexit zu überzeugen. Murphy ist, was man einen klassische­n Labour-mann nennt. Mehr als 30 Jahre war er Mitglied bei den Sozialdemo­kraten, hat als Berater für Tony Blair gearbeitet, war während der Hoch-zeiten von Labour in der Downing Street tätig.

Vor sechs Wochen wechselte er zu Change UK. Das Wirtschaft­sprogramm von Jeremy Corbyn sei ein Desaster, die unklare Haltung beim Thema Brexit nicht hinnehmbar, schimpft er. Seit Monaten windet sich Labour, will die Brexit-wähler halten und die Eu-freunde nicht vergraulen. „Wir dagegen sind ein neues Gebräu mit einem anderen Ansatz, Politik zu machen.“

Und die Regierungs­chefin? „Sie ist bei weitem die schlechtes­te seit Menschenge­denken.“Der Groll auf Theresa May ist dieser Tage das Einzige, bei dem sich die Nation einig ist – ganz gleich, ob Pro-europäer oder Brexit-anhänger.

Bald will May zurücktret­en.

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Foto: Ian Forsyth, Getty Images Er ist das Vorbild für alle, die in Brüssel Krawall machen wollen: Nigel Farage von der Brexit Party.
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