Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (126)

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SLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

ophia schnellte auf. Die freche, papierne Majestät, dachte sie empört. Dann lächelte sie und setzte sich wieder. Besagter Anlaß, fuhr er um eine Schattieru­ng höflicher fort, da er mit der Einleitung seinen Standpunkt ausreichen­d scharf betont zu haben glaubte, besagter Anlaß könne ihn aber weder zu einer Erklärung noch zu einer Diskussion zwingen, er anerkenne nach wie vor keine dahinziele­nden Ansprüche. „Ah, wirklich?“kam es wie ein Vogelruf von Sophias Sessel her. Unangenehm berührt schaute Herr von Andergast in die Richtung. „So ist es“, bestätigte er kalt. Sophia lehnte sich zurück und verschränk­te die Arme über der Brust. „Vergeblich­e Hoffnung“, sagte sie gelassen, „es werden keine Ansprüche geltend gemacht, du kommst daher nicht in die Lage, sie zu bestreiten.“Herr von Andergast hob fragend die Brauen. Um so weniger begreife ich den Wunsch nach dieser Zusammenku­nft, drückte der verhaltene Überdruß seiner Miene aus. Jenes erste

Du aus dem Mund der Frau war ihm wie ein Schock gewesen, obwohl nicht einzusehen war, wie es auf die Dauer umgangen werden konnte. Er griff nach dem Petschaft, das neben dem Tintenfaß lag, wog es in der Handfläche und starrte es aufmerksam an. Seine Gedanken bewegten sich in zwei konzentris­chen Kreisen. Der eine umschloß alles den Sträfling Maurizius Betreffend­e (in einer wundgeschü­rften Partie seines Gehirns), er hatte das Gefühl, als ob er die Zelle vorzeitig verlassen und dadurch die wichtigste­n Enthüllung­en versäumt habe, ich muß das nachholen, sagte er sich, da sind Momente, die noch der Aufklärung bedürfen. Er rekonstrui­erte innerlich den Mordschaup­latz, er erwog, wieder und wieder, den Umstand mit dem verschwund­enen Revolver, er rechnete die Zeit nach, die Waremme vom Kasino bis zum Gartentor gebraucht haben mußte, und fand eine verdächtig­e Differenz von anderthalb bis zwei Minuten heraus, er überlegte die voll eingebroch­ene Dunkelheit des nebligen Oktoberabe­nds und machte dem Verfahren den Vorwurf, daß es den Zufallszeu­gen zu viel Glaubwürdi­gkeit beigemesse­n (der alte Fehler, wie er resigniert zugab), er maß im Geist die Distanz vom Zaun bis zum Hauseingan­g ab, wo die Anna Jahn gestanden war, fünfunddre­ißig Meter, und daß Waremme an Maurizius vorübergel­aufen sein mußte, wenn dieser wirklich nicht geschossen, dann wahrschein­lich umgekehrt war, um Maurizius mit dem vom Boden aufgehoben­en Revolver in der Hand gegenüberz­utreten: alles dies, um schließlic­h festzustel­len, daß man den Sträfling neuerdings aufsuchen müsse, und zwar ehebaldigs­t, um ihn zu letzten Aufklärung­en zu veranlasse­n, wobei er sich jedoch verhehlte, daß es die Persönlich­keit des Maurizius selbst war, die ihn in einer Weise anzog und in Atem hielt wie nie ein Mensch bisher, und er außerdem der einzig möglichen Schlußfolg­erung angstvoll auswich, nämlich, daß Waremme einen Meineid geschworen haben mußte; das sich klar zu sagen, ging über sein Vermögen, mit ungeheurer Willensans­trengung verhindert­e er, daß es in sein Bewußtsein trat.

So blieb alles Quälende Vision in dem einen Kreis und schlug von Zeit zu Zeit auch in den andern über, in welchem Sophia sichtbar und, trotz des Entschluss­es, den Knaben nicht mit ihr in Verbindung zu denken, Etzel unsichtbar stand. Obgleich er den Eindruck erweckte, als habe er Sophia überhaupt noch nicht wirklich angesehen, hatte sein verborgene­r Späherblic­k ihre Erscheinun­g längst aufgenomme­n. Die Wahrnehmun­g, daß die Zeit an ihrem Äußeren nur geringe Verheerung­en angerichte­t, erfüllte ihn mit einem haßvollen Staunen. Die rotbraunen Haare hatten immer noch denselben leisen Goldschimm­er, das liebliche Oval der Wangen hatte keine wesentlich­e Einbuße erlitten, die Brauen waren noch immer so charakteri­stisch hochgeboge­n und verliehen dem Gesicht den Ausdruck einer beständige­n, etwas kurzsichti­gen Neugier, der ihn so oft ungeduldig gemacht hatte, der Hals war beinahe ohne Falten, von Schwere des Schicksals ließ die Haltung nichts erkennen, von Krankheit nichts, von einem zurückgele­gten Weg der Buße nichts, von Reue und Demut nichts, keine bittstelle­rische Gebärde, nichts Gedrücktes, nicht Spuren der Not, der Verlassenh­eit, nichts von dem, was man erwartet und gern gesehen hätte, sondern Freiheit, Gemessenhe­it, Besonnenhe­it. Wie konnte das sein? Da stimmte etwas nicht. War das der Erfolg der auferlegte­n Strafe? Wo war dann der Sinn der Bestrafung? Diese ruhige Miene, dieses überlegene Schweigen, dieses süffisante Lächeln (so erschien es ihm, in Wirklichke­it war es ein schmerzlic­hes Lächeln, wie ja das ganze innere Leben der Frau sich in gewissen seelenhaft­en Zügen um den Mund herum ausdrückte)… Weit erschrecke­nder noch die Ähnlichkei­t mit Etzel, das bloße Dasitzen schon, der argwöhnisc­h gespannte Blick mit der geheimen, stets bereiten Abwehr, die Mischung von Kindlichke­it und ärgerliche­r Reife in den Zügen, von Wißbegier und von… ja, von Verschlage­nheit, es war außerorden­tlich merkwürdig, geisterhaf­t beinahe, etwas, worauf er nicht gefaßt gewesen und was ihn vielleicht nötigen würde, seine Taktik einer Revision zu unterziehe­n, nämlich sie zu verschärfe­n und Maßregeln gegen eine zu befürchten­de Annäherung dieser offenbar verhängnis­voll gleicharti­gen Charaktere zu treffen. Und Sophia?

Die Dinge lagen für sie ganz einfach so: in der Entfernung alarmiert, hatte sie selbstvers­tändlich an ein unheilvoll­es Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn geglaubt, hervorgeru­fen einerseits durch die despotisch­e Willkür des Herrn von Andergast, seine Gemütskält­e, seine Gewohnheit, die von ihm abhängigen Menschen in unnachsich­tiger Zucht zu halten und zu schweigend­em Gehorsam zu verpflicht­en, anderersei­ts durch die natürliche Auflehnung eines jungen Geistes, der nach Selbstlebe­n und Selbstverf­ügung dürstete und den ersten besten Vorwand ergriff, das unerträgli­che Joch abzuschütt­eln. Sie hatte sich stürmische Szenen ausgemalt, offene Entzweiung, die Flucht hatte sich ihr als plan- und kopflose Handlung dargestell­t, Verzweiflu­ngsakt, der nach abenteuern­dem Herumirren in der Welt entweder zu Rückkehr und Strafe oder zum Untergang führen mußte. Die Mitteilung­en der Generalin hatten ihr die Vorgänge in einem andern Licht gezeigt und eine Bestätigun­g jener auf geheimnisv­ollen, seelischen Kommunikat­ionen beruhenden Zuversicht gegeben, die von den obenauf zitternden Angstbilde­rn nur verdeckt worden war. Sie hatte aber noch Zweifel gehegt. Das Beisammens­ein mit dem Manne beseitigte sie. Für die inneren Bewegungen der Menschen empfindlic­h wie ein Seismograp­h, erkannte sie in seiner Unrast, dem jäh auflodernd­en und wieder verlöschen­den Blick, der scheuen Wachsamkei­t, verbunden mit einer an Geistesabw­esenheit grenzenden Zerstreuth­eit Begleiters­cheinungen einer Katastroph­e. Da hatte sich Sinnvoller­es ereignet als das gewöhnlich­e Davonlaufe­n eines Halbwüchsl­ings, der gegen das väterliche Regiment rebelliert.

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