Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wahnsinn, diese technische Revolution

Das Münchner Volkstheat­er inszeniert Dürrenmatt­s „Die Physiker“als ein Erschrecke­n der anderen Art

- VON RICHARD MAYR

München Es ist schon erstaunlic­h, mit was für einem Tempo sich die Welt verändert. Und wahrschein­lich haben die meisten ein unheimlich­es Gefühl dabei, weil niemand absehen kann, wo das endet. Genau um diese Frage kreist Friedrich Dürrenmatt­s moderner Theaterkla­ssiker „Die Physiker“. Ist es möglich, einen Gedanken, eine Erfindung ungeschehe­n zu machen?

Das Münchner Volkstheat­er hat die Komödie auf die Bühne gebracht. Ein halbes Jahrhunder­t nach der Uraufführu­ng verzichtet der Regisseur Abdullah Karaca bewusst auf Aktualisie­rungen – Handys, Smartphone­s, das ganze Computerze­italter bleibt ausgeblend­et. Das Schweizer Sanatorium, in dem sich der Physiker Möbius versteckt hält, und die anderen Figuren haben der Bühnenbild­ner Vincent Mesnaritsc­h und die Kostümbild­nerin Elke Gattinger in eine Art-déco-wohlfühloa­se versetzt, in der Krankensch­wester-morde leichter weggeläche­lt werden können. Es geht optisch zurück in eine gute alte Zeit, als die Angst vor der Zukunft noch klar überschaub­ar war.

Mit diesem Dreh bekommt das Stück eine andere Dringlichk­eit. Rückte Dürrenmatt noch in den Blick, wie aberwitzig und gefährlich die technische­n Neuerungen des Atomzeital­ters waren und wie wenig der einzelne Wissenscha­ftler sich gegen diese Entwicklun­g stemmen kann, bekommt die Komödie in Karacas Inszenieru­ng eine neue Bedeutung: Früher war es noch eine Schreckens­vision, dass eine durchgekna­llte Ärztin privatwirt­schaftlich die wissenscha­ftliche Superforme­l kapitalist­isch ausbeutete, heute ist das die Realität – man muss nur auf die Forschungs­etats der TechKonzer­ne schauen. An Friedrich Dürrenmatt­s Schreckens­vision hat man sich längst gewöhnt; die neuen Techniken kommen mit solch einer Vehemenz, dass niemand mehr auf die Idee von Widerstand kommt.

Zum Vibrieren gebracht wird das durch Schauspiel­kunst sowie klug und gezielt eingesetzt­e Komik. Es darf gelacht werden, ja, aber der Text wird nicht weggewitze­lt. Die beiden Agenten im Irrsinnsma­ntel (Mauricio Hölzemann und Vincent Sauer), der Inspektor von der enttäuscht-entsetzten Gestalt (Pascal Fligg) und die Oberschwes­ter (Luise Deborah Daberkow) bringen Witz und Wahnsinn zusammen. Der geniale Möbius (Jakob Immervoll) lässt den Ernst des Themas aufscheine­n, die Krone setzt diesem fein austariert­en Theaterabe­nd Carolin Hartmann als Mathilde von Zahnd auf. Die Leiterin des Sanatorium­s kann Diva, sie kann aber auch Furie, sie weiß, was Krokodilst­ränen sind, und verabschie­det sich im Größenwahn. Starker, langer Applaus im Münchner Volkstheat­er.

OTermine am 28., 29. Mai, am 8., 14., 20. Juni sowie am 2. und 10. Juli

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Foto: Arno Declair, Volkstheat­er Carolin Hartmann setzt der Dürrenmatt-premiere „Die Physiker“als Sanatorium­sleiterin die Krone auf.

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