Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (129)
ELeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
r schaute sie an, sie lächelte, das Lächeln war schmal und hatte eine stille Gewalt. Plötzlich nickte sie ihm zu, fremd, stolz, und wandte sich zur Tür, im Gehen den Handschuh über die linke Hand ziehend. Herr von Andergast ließ sich auf dem Schreibtischsessel nieder, stützte die Ellbogen auf den Tischrand und schlug die Hände vor das Gesicht. So saß er zwei Stunden lang und hörte nicht das mehrmalige, immer zaghaftere Pochen der Rie, die sich endlich gegen elf Uhr ängstlich entschloß, die Türe sacht zu öffnen und durch den Spalt zu wispern, daß das kalte Abendessen bereitstehe. Sie war übrigens mit dem Besuch der Frau gewissermaßen versöhnt, denn als Sophia beim Verlassen des Zimmers die Rie auf dem Flur stehen sah, war sie auf sie zugegangen und hatte ihr stumm die Hand gedrückt.
Um sieben Uhr morgens befand sich Herr von Andergast abermals auf dem Weg nach Kressa. Was wollte er dort? Was erwartete er? Was zog ihn so ungeduldig hin, daß
das Auto im Tempo einer Postkutsche zu schleichen schien und er jedes Hindernis auf der Fahrstraße mit Erbitterung betrachtete? Wieder Verhör und Befragung, es hatte keinen Sinn mehr. Die kriminellen Einzelheiten, mit denen er sich noch gestern solchen Sinn vorgetäuscht, hatten aufgehört, etwas zu bedeuten. Sie konnten dem Bild nichts hinzutun, nichts von ihm nehmen. Worin lag also der Antrieb? Er vermied es, darüber mit sich ins reine zu kommen. Diese Art von Unruhe näher zu untersuchen, als ob man… zum Lachen … als ob man einen Freund, bevor unaufhaltsame Entscheidungen fielen, noch sehen müsse, hätte auf bedenkliche Abwege geführt. Freund… der Zuchthaussträfling: Freund? Es war vielleicht der kranke Kopf, der solche Mißregungen gebar. Überarbeitung. Druck und Nachhall widriger Erlebnisse, das da mit der Frau und das andere mit dem Jungen. Indem er sich befliß, beiden das Gewicht abzusprechen, nicht daran zu denken, nicht daran zu leiden, jede Verschuldung zu leugnen, belud er möglicherweise, so sagte er sich, den Zwischenfall Maurizius aus innerer Gegendemonstration mit Scheingewichten. (Ein Raffinement der Selbstbeobachtung, das seinem Geist alle Ehre machte.) Gleichwohl, was ihn zu dem Sträfling trieb, war von ähnlicher Beschaffenheit wie das, was ihn nach dem Jungen verlangen machte, nicht so beleidigt und verfinstert, als wäre das Beste in einem verkannt worden, sondern hintergründiger, wie wenn man das Schicksal versöhnen müßte, die Schranken aber doch zu fest wären, als daß man sie durchbrechen könnte. (Diese absolut freudlosen, vom Wesen der Freundschaft nur aus verblaßten Jugendreminiszenzen wissenden Männer seines Schlags und seiner Generation gewahren ihre vollkommene Isolierung erst in einem sehr fortgeschrittenen Zeitpunkt ihres Lebens, und es kann wie bei manchen Frauen im Klimakterium passieren, daß sie mit verdunkeltem Willen das Entbehrte durch Handlungen zu erlangen suchen, die einer Umkehrung ihres bisherigen Charakters gleichkommen.) Es schwebte ihm vor: Aussprache, Verständigung, mehr noch ein (wie er nur zu gut wußte aussichtsloses) Sichverständlichmachen, dabei sträubte er sich gegen den Zwang, zuckte die Achseln über sich, ersann Vorwände, um sich die Notwendigkeit des neuerlichen Besuchs plausibel zu machen, konnte aber nicht verhindern, daß er beständig die gurrende Stimme im Ohr hatte, die zerhackten Gebärden, die flatternden Blicke des Gefangenen vor sich sah, den anmutig geschwungenen Mund, der an Napoleons Mund erinnerte, die kleinen Mädchenzähne, die schlohweißen Haare, und nebst alledem die Empfindung hatte, die sich schon beim ersten Gegenüberstehen geregt, wie wenn da ein Mensch mit dem Auftrag betraut wäre, der Welt Geheimnisse zu eröffnen, von denen sie bis jetzt keine Ahnung gehabt hatte.
Kurz vor Kressa wurde die Fahrt durch eintretenden Regen verzögert, der Chauffeur mußte das Dach über den Wagen spannen. In der Kanzlei hatte er eine Viertelstunde zu warten, da man erst den Vorsteher benachrichtigte, der beim Rapport war. Als Pauli kam, teilte er ihm mit, der Sträfling 357 sei in der Nacht erkrankt, man habe aber auf seinen eigenen Wunsch davon abgesehen, ihn ins Lazarett zu schaffen, er liege in seiner Zelle. Übrigens sei es nach Angabe des Arztes nur eine leichte Unpäßlichkeit, Magenverstimmung oder dergleichen, der Patient fühle sich nach Einnehmen von kohlensaurem Natron ganz wohl, der Herr Baron könne ihn ohne weiteres sprechen. Der Schreiber mit den aufgeregten Augen erhob sich und reichte diensteifrig den Krankenzettel herüber. Zehn Minuten später, von der Gefängnisuhr schlug es eben neun, sperrte der Wärter die Zelle auf.
Maurizius lag auf der eisernen Bettstelle, mit einer grauen haarigen Wolldecke bis zur Brust zugedeckt. Sein Gesicht war kalkig, die Augen schwammen wie zwei Kohlenstücke in den schwarzumränderten Höhlen. Beim Anblick des Oberstaatsanwalts richtete er sich jäh empor, mit einem Ausdruck, als wolle er sagen: Schon wieder? Noch nicht genug? Über dem rauhstoffigen Hemd trug er den Zwillichkittel, dessen Knöpfe am Hals offen standen. Herr von Andergast trat auf ihn zu, schaute von seiner imponierenden Höhe aus mit trübverzogener Stirn auf ihn herunter – und plötzlich streckte er ihm beide Hände hin. Indes er wartete, daß die Gebärde erwidert werde (sie wurde es nicht), schimmerten seine großen Zähne durch die Lippen, die wulstig aussahen, wie geschwollen. Man hätte denken sollen, das weiße Gesicht des Sträflings hätte nicht weißer werden können, und doch war es der Fall. Was soll das? fragte der stiere Blick erschrocken und böse, wozu das? was steckt dahinter? Das charakteristische Mißtrauen des langjährigen Zuchthäuslers. Herr von Andergast ließ die Arme sinken. Eine Weile stand er grübelnd. Dann schritt er zum Fenster, schaute in die wie mattes Seidengewebe niederschleifenden Regenschwaden, sodann nahm er den Holzstuhl, schob ihn neben die Bettstelle und ließ sich schwer darauf nieder. Die Fingerspitzen beider Hände aneinanderlegend, sagte er bedächtig: „Ich möchte diesmal auf alle Ihnen unbequemen Erkundigungen und Nachforschungen verzichten. Beunruhigen Sie sich also nicht. Es tut mir leid, daß Ihre Gesundheit unter der gestrigen Anstrengung gelitten zu haben scheint.“Maurizius legte den Kopf, den er bisher in gefolterter Aufmerksamkeit aufgerichtet gehalten, auf das grobe Kissen zurück. „Bah, Gesundheit“, sagte er gleichgültig. Weiter nichts. Herr von Andergast beugte sich vor. „Eine Frage“, fuhr er in dem völlig veränderten Ton fort, den er heute gegen den Sträfling angenommen hatte, einem Ton, aus dem unverkennbar herausklang: ich spreche von Mann zu Mann, von gleich zu gleich, und der Maurizius aufhorchen ließ, als lausche er der mühsam unterscheidbaren Stimme aus einem fernen Gemenge, „eine einzige Frage. Wenn Sie für gut finden, nicht zu antworten, werde ich Ihr Schweigen verstehen. Es könnte ja auch nur eine einzige Deutung haben.“