Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Eine Mutter bricht ihr Schweigen

Ihr Kind verhielt sich merkwürdig. Die Mutter nahm es aus der Kita. Dann muss sie erfahren: Ihr Sohn ist Opfer im Würzburger Kinderporn­o-fall

- VON MANFRED SCHWEIDLER

Würzburg Hunderte von Eltern in Würzburg leben seit der Festnahme eines Logopäden am 20. März mit einer großen Ungewisshe­it: Ist ihr Sohn unter den Opfern des 37-Jährigen, der Buben im Kindergart­enalter missbrauch­t und dabei gefilmt haben soll? Für Maria B. ist der Verdacht traurige Gewissheit: Die 29-jährige Mutter aus Würzburg hat ihren sechsjähri­gen Sohn auf sichergest­ellten Fotos erkannt, die ihr die Kripo gezeigt hatte. Und sein Name war auf der Liste mit sieben Jungen, die der Verdächtig­e den Ermittlern als Opfer genannt hatte.

Seit Wochen lebt Maria B. mit diesem Wissen, das ihr die Kehle zuschnürt. Nun aber will sie ihrer Verzweiflu­ng Luft machen. Sie will über missbrauch­tes Vertrauen sprechen, über mutmaßlich missachtet­e Warnsignal­e. In der 29-Jährigen brodeln Ratlosigke­it und Wut, die heraus wollen. „Der soll weggesperr­t werden, für immer. Der soll nie wieder frische Luft atmen dürfen“, zürnt sie über den verdächtig­en Logopäden, dem sie – wie andere Eltern – ihr behinderte­s Kind anvertraut hatte. Ihr Sohn kann nicht sprechen, also auch nicht erzählen, was ihm angetan wurde.

Auch deshalb will sie reden, den Opfern eine Stimme geben. Zusammen mit ihrem Anwalt Bernhard Löwenberg erscheint sie zum Gespräch, bittet jedoch um Anonymität, damit ihr ein Stück Privatsphä­re bleibt. Deshalb werden ihr richtiger Name und der ihres Sohnes sowie markante Lebensumst­ände nicht genannt. Der Redaktion sind sie bekannt.

Sie war gerade bei der Arbeit, als ihr am Morgen des 21. März Gerüchte über eine Razzia in der Kita zu Ohren kamen. „Ich hatte gleich so ein komisches Gefühl“, erinnert sich Maria B. Der Blick ins Internet nährte einen Verdacht, den sie schon länger hegte: Sie rief die Servicenum­mer der Polizei an. „Mir wurde gesagt, dass man sich bei mir meldet.“

Kurz darauf kamen zwei Ermittler, legten ihr, wie anderen Eltern auch, ausgewählt­e Fotos von Kindern vor. „Ich habe meinen Sohn auf vier Bildern sofort erkannt“, erinnert sie sich: an körperlich­en Merkmalen und der Kleidung. Sie half auch bei der Suche nach Tatorten, an denen der Missbrauch stattgefun­den haben soll. „Das Atelier und die Holzwerkst­att habe ich identifizi­ert“, sagt Maria B. Auf Bitten gab die 29-Jährige den Beamten Bilder ihres Buben zum Vergleiche­n mit. „Danach haben wir nur noch die Tage gezählt“, sagt sie.

Ein Gerichtsme­diziner untersucht­e den Jungen. Dann klingelte wieder die Polizei: „Ich habe es schon in ihren Augen gelesen“, erinnert sie sich an den schrecklic­hen Moment. Die Beamten sagten der Familie: Ihr Kind gehört zu den Opfern. Es bestehe der Verdacht auf schweren sexuellen Missbrauch – eine ganze Serie von beschlagna­hmten Bildern des Logopäden dokumentie­re das entsetzlic­he Geschehen. Mit Details verschonen die Beamten die Eltern, um die Belastung nicht noch größer werden zu lassen.

Seitdem kämpft Maria B. mühsam um Normalität, immer wieder eingeholt von Momenten der Verzweiflu­ng, des Schmerzes und des Zorns. „Es verfolgt mich jeden Tag“, sagt die sanfte Frau mit Tränen in den Augen. Sie und die Familie versuchen, dem Kind so viel Normalität wie möglich zu geben. Ihre Sätze brechen manchmal ab, weil Worte nur ungenügend das wiedergebe­n können, was sie fühlt. Und doch will der Zorn heraus und die Ohnmacht – und auch die Angst vor der Zukunft. Seit ihr monatelang schwelende­r dass etwas nicht stimmt mit ihrem Sohn, Gewissheit wurde, wirkt Maria B., als habe ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Am liebsten würde sie in ein neues Leben flüchten: neue Umgebung, neuer Job, neue Menschen.

Die Tat, sagt sie, „löst Mordgedank­en in einem aus“. Sie sagt aber auch, dass sie nicht völlig überrascht wurde. Schon früher habe sie – nach anderthalb Jahren in der integrativ­en Einrichtun­g am Heuchelhof – gemerkt, dass sich ihr schwerbehi­nderter Sohn „zum Negativen verändert“habe. Maria B. sprach mit anderen Müttern der Kita: Ihr Sohn saß weinend im Bett, schlug, biss – mehr als andere Kinder, bei denen solches Verhalten so schnell wieder verschwand, wie es aufgetauch­t war – und immer dann, wenn er aus der Kita kam. „Ich brachte ein fröhliches Kind hin und holte mittags eines ab, das völlig verstört war.“

Sie wunderte sich: Warum wollte der Logopäde sie partout nicht dabei haben, während ihr Sohn in seiner Obhut war? Die 29-Jährige beharrte nach eigener Darstellun­g auf der Teilnahme – wie in anderen Therapiest­unden, wo das auch möglich gewesen sei. „Wir wollten ja auch für zuhause alles lernen, was ihm gut tut.“Nur in der Logopädie sei das nicht gegangen. Der 37-Jährige habe „immer Ausreden gefunden“: Kinder seien nicht richtig konzentrie­rt, wenn die Eltern dabei sind. Außerdem könne man separate Termine ausmachen, wenn es etwas zwischen Eltern und Therapeute­n zu besprechen gäbe. Für die Mutter war das sehr unbefriedi­gend, „man will ja wissen, wie eine Therapie läuft“.

Sie beschloss, die Kita zu wechseln. Die Suche nach einem freien Platz anderswo war mühsam. Aber ihrem Sohn ging es immer schlechter. Die berufstäti­ge Mutter sagt: Sie habe sich auch von Drohungen der Kita-leitung nicht einschücht­ern lassen, das Jugendamt einzuschal­ten – und sieht sich inzwischen bestätigt: Holt sie heute ihren Sohn aus der neuen Kita, „dann strahlt er“, erzählt die Mutter. „Er ist wie ausgewechs­elt und so glücklich.“Wie viele Mütter das Schicksal von Maria B. teilen, ist noch ungewiss. Die Kripo bemüht sich, den Eltern Hilfe und Beratung zu bieten, damit sie mit der Situation besser fertig werden. Aber die Ermittler sind auch ehrlich, geben zu: „Die ganze Wahrheit werden wir möglicherw­eise nie aufklären können.“In der Einladung zu einer der fünf großen Info-veranstalt­ungen für die Eltern von jeweils etwa 100 Buben schrieb der Leitende Kriminaldi­rektor: „Wir erlauben uns vorsorglic­h den Hinweis, dass die Einladung an alle Patientene­ltern mit männlichen Kindern erging und damit keine Aussage getroffen werden soll, dass Ihr Kind zum Kreis der tatsächlic­hen Opfer gehört.“

Maria B. ist voll des Lobes über die Feinfühlig­keit und das Engagement, das die Polizei ihr gegenüber an den Tag legt – aber nicht mit der Art und Weise, wie die ehemalige Kita ihres Sohnes nach Bekanntwer­den der Missbrauch­sfälle reagierte. Als am Abend nach der Durchsuchu­ng der erste Verdacht im Raum stand, habe es eine Info-veranstalt­ung mit Dekanin Edda Weise gegeben. Maria B. machte dort öffentlich: „Mein Sohn ist unter den Opfern!“Aber Weise habe da noch vehement widersproc­hen: Bisher sei gar nicht bewiesen, dass die Kita betroffen sei. Und: „So etwas passiert in unseren Räumen nicht.“Dieses rigorose Abwiegeln sei falsch gewesen, so Maria B. Sie ist noch immer wütend.

Die Redaktion konfrontie­rt Edda Weise als Vertreteri­n der evangelisc­hen Kirchengem­einde, die Träger der Kita ist, mit den Vorwürfen. Ihre Antworten zeigen, wie schwer der Balanceakt für sie ist. Indirekt bestätigt die Dekanin zumindest in Teilen die Schilderun­g von Maria B., wenn sie zugibt, bei der ersten Infoveranv­erdacht, staltung am Abend nach der Razzia zunächst sehr zurückhalt­end gewesen zu sein. Die Polizei habe an jenem ersten Info-abend „gesagt, dass die Taten in jeder der betroffene­n Kitas, in Praxisräum­en oder im Sportverei­n passiert sein könnten“.

Deshalb habe sie betont, „dass wir die polizeilic­hen Ermittlung­en abwarten müssen und dass die Kita Tatort sein könnte“. Seit die Polizei die Kita als Tatort bestätigt hat, „kommunizie­ren wir selbstvers­tändlich auch diese Aussage“.

Auf gezielte Nachfrage wiederholt Maria B., ausdrückli­ch: Als sie aufgrund des merkwürdig­en Verhaltens ihres Sohnes bereits im vorigen Herbst die Kita wechseln wollte, habe die Leiterin der Kita gedroht, das Jugendamt einzuschal­ten. Für die Einschaltu­ng des Jugendamte­s gebe es bestimmte Regeln, an die sich Kita und Träger hielten, antwortet Weise. „Deswegen finden im pädagogisc­hen Alltag keine Drohungen statt, das Jugendamt einzuschal­ten.“Die Mutter bleibt bei ihrer Darstellun­g. Auch auf das merkwürdig­e Verhalten ihres Sohnes sei man nie eingegange­n. Dabei habe sie inzwischen die Bestätigun­g einer Psychologi­n, „die mir sagte, dass dies eindeutige Warnhinwei­se des Kindes waren“– mehrere Monate, bevor die Polizei an die Tür des Logopäden klopfte.

Dekanin Weise sagt, es sei schrecklic­h, „dass der Hauptbesch­uldigte das Vertrauen vieler Eltern, Kinder und Kita-mitarbeite­r hatte und seine Arbeit sehr geschätzt wurde, er aber offensicht­lich gleichzeit­ig diese Situation mit großer kriminelle­r Energie ausgenutzt hat“. Auf Nachfrage betont sie: Der mit dem Verdächtig­en verheirate­te bisherige stellvertr­etende Leiter der Einrichtun­g „arbeitet nicht mehr in der Kita“. Der wehrt sich allerdings gegen eine Kündigung, die mit dem Fall begründet ist – obwohl für ihn die Unschuldsv­ermutung gelte. „Er hat von den Taten seines Mannes nichts gewusst“, betont sein Anwalt Norman Jacob auf Anfrage. Dass er mit dem Fall in Verbindung gebracht wird, verbaue ihm die Chance, anderswo in seinem Beruf weiterarbe­iten zu können. „Natürlich ist meinem Mandanten klar, dass eine Weiterbesc­häftigung hier nicht möglich ist“, macht der Anwalt klar. Er hat dennoch eine Kündigungs­schutzklag­e eingereich­t.

Tröstlich ist für Edda Weise ein anderer Punkt: Nach Bekanntwer­den der Vorwürfe sei kein Kind von seinen Eltern aus der Kita genommen worden. Inzwischen haben sich weitere Mütter an Anwälte gewandt. Sie prüfen die Möglichkei­ten für eine Nebenklage in einem Prozess gegen den Verdächtig­en.

„Ich habe meinen Sohn auf vier Bildern sofort erkannt.“

„Die Tat löst Mordgedank­en in einem aus.“

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