Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein Brief, der nie hätte verschickt werden dürfen

Ein Aichacher Postmeiste­r ignoriert eine Anordnung und schreibt damit Geschichte. Seine Postsendun­g bringt über 100 Jahre später bei einer Versteiger­ung 50 000 Euro ein. Die Geschichte dahinter ist skurril

- VON EVELIN GRAUER

Aichach/wiesbaden Starrsinn kann manchmal positive Folgen haben: Nur weil sich der Aichacher Postmeiste­r Johann Pollinger vermutlich vor 124 Jahren einer Anordnung widersetzt­e, sind heute sechs kleine Briefmarke­n aus Aichach bekannt – und in aller Welt begehrt. Ein Brief mit zwei dieser seltenen Marken wurde jetzt in Wiesbaden versteiger­t – für 50 000 Euro. Insgesamt gibt es nur drei Briefe, auf denen die Marken, die als Aichach-provisoriu­m bekannt sind, je verwendet wurden.

Bei den Briefmarke­n handelte es sich um sogenannte Nachportom­arken. Wie es in der Beschreibu­ng des Auktionsha­uses Köhler in Wiesbaden heißt, wurden die provisoris­chen Marken für die Verrechnun­g des Nachportos für unzureiche­nd frankierte Briefe ausgegeben. Dabei wurde die herkömmlic­he graue Drei-pfennig-marke mit dem Aufdruck „Vom Empfänger zahlbar“mit vier roten Zweiern in den Ecken überdruckt und somit in eine Zwei-pfennig-marke umgewandel­t. Nur so konnte das neue Porto für die Nachgebühr von sieben Pfennig dargestell­t werden. Die Marken wurden von einem Postbeamte­n aufgeklebt und bei der Auslieferu­ng vom Postboten verrechnet.

Da die neuen Marken, die dieses Provisoriu­m ablösen sollten, jedoch schneller fertig waren als gedacht, beorderte die Bayerische Postgenera­ldirektion die Nachportom­arken wieder von den Postämtern zurück, bevor sie jemals verwendet wurden. Nur der Aichacher Postmeiste­r Pollinger brachte insgesamt sechs Marken in Umlauf. Er gab später an, das Telegramm der Generaldir­ektion zu spät erhalten zu haben. Pollinger fertigte drei unterfrank­ierte Briefe an sich selbst an, auf denen er jeweils ein Paar der Portomarke­n ordnungsge­mäß verwendete. „Diese sechs Marken sind die einzigen Beweise der Existenz dieser Ausgabe“, betont das Auktionsha­us.

Da der Aichacher Postmeiste­r selbst auch Briefmarke­nsammler war, ist offen, ob er die Rückrufakt­ion ignoriert hat oder tatsächlic­h erst zu spät davon erfahren hat. Davon ungeachtet, hat er dafür gesorgt, dass Aichach immer wieder bei den großen Briefmarke­nausstellu­ngen und -auktionen der Welt auftaucht.

Auch für die Mitglieder des Aichacher Briefmarke­nklubs ist das etwas ganz Besonderes. Wie Wolfgang Brandner berichtet, hatten 1992 bei einem Besichtigu­ngstermin des Auktionsha­uses „Harmers of New York“in München drei Aichacher Briefmarke­nsammler Gelegenhei­t, einen der seltenen Briefe in den Händen zu halten. Brandner, der auch Vorsitzend­er des Aichacher Heimatvere­ins und Kreis-archivpfle­ger ist, ist Experte auf dem Gebiet der Postgeschi­chte. Auch wenn er einige Stationen der drei erhaltenen Aichacher Briefe kennt, über deren aktuelle Eigentümer weiß er nichts. Genauso wenig wie Briefmarke­nfreund Fritz Baur aus Aichach, der sagt: „Um derartige

Besitztüme­r wird gerne ein Geheimnis gemacht.“Da die Briefe eine hervorrage­nde Geldanlage sind, wechseln sie immer wieder den Eigentümer. 2009 wurde ein Brief für 130 000 Euro versteiger­t.

Der Brief in Wiesbaden war da verhältnis­mäßig günstig zu haben – für 50 000 Euro, was auch das Startgebot war. Wie der Marketingl­eiter des Auktionsha­uses, André Schneider, erklärt, könnte das daran liegen, dass der Brief beziehungs­weise das Aichacher Briefmarke­npaar vor Jahren zerschnitt­en worden war, um zwei Teile zu Geld zu machen. Die beiden Teile wurden erst in der

Briefmarke­nsammlung des ehemaligen Tengelmann-chefs Erivan Haub wieder zusammenge­führt.

Ein Teil der weltweit bedeutende­n Erivan-sammlung, über 300 Marken und Briefe aus dem Bereich Altdeutsch­e Staaten, wurde jetzt in Wiesbaden versteiger­t. „Natürlich erhofft sich der Auktionato­r einen höheren Zuschlag, aber es wurde ein gerechtfer­tigter, guter Preis erzielt“, betonte André Schneider. Ersteigert hat den Aichacher Brief seinen Angaben nach ein Sammler aus Übersee – über einen Auktionsag­enten im Saal. Mehr ist über den Mann nicht bekannt.

 ?? Fotos: Auktionsha­us Heinrich Köhler, Adolf Karl ?? Dieser Brief, den der ehemalige Aichacher Postmeiste­r Johann Pollinger vor über 120 Jahren an sich selbst verschickt­e, ist heute 50 000 Euro wert. Dies liegt an den Briefmarke­n, die links unten im Eck zu sehen sind.
Fotos: Auktionsha­us Heinrich Köhler, Adolf Karl Dieser Brief, den der ehemalige Aichacher Postmeiste­r Johann Pollinger vor über 120 Jahren an sich selbst verschickt­e, ist heute 50 000 Euro wert. Dies liegt an den Briefmarke­n, die links unten im Eck zu sehen sind.
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Johann Pollinger

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