Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Bremst Erdogan seinen gefährlichsten Gegner aus?
Als Bürgermeister von Istanbul wurde Ekrem Imamoglu zum Star. Doch der Präsident macht ihm das Leben schwer
Istanbul Als Ekrem Imamoglu im Juni zum neuen Bürgermeister der Megastadt Istanbul gewählt wurde, schienen dem Shootingstar der türkischen Politik alle Türen offen zu stehen. Dass ein Kandidat der Opposition die mächtige Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan in die Schranken verweisen könnte, hatten viele Türken nicht mehr für möglich gehalten. Erst recht, nachdem der erste, knappe Wahlsieg unter fragwürdigen Umständen annulliert worden war – und der Präsident eine Wiederholung quasi erzwungen hatte.
Dass ein unbekannter Oppositioneller mit weichen, einenden Botschaften punktet gegen einen Präsidenten, dem vorgeworfen wird, zunehmend autokratisch zu regieren, machte Imamoglu unter Erdogankritikern im In- und Ausland zum Hoffnungsträger. Vielen gilt er schon als nächster Präsident. Aber erst mal muss er das in Istanbul gut machen – und das ist schwer genug.
Schon vor Monaten hatte der Türkei-experte Wolfango Piccoli von der Denkfabrik Teneo gewarnt, dass die Regierung Möglichkeiten habe, einen Oppositionsbürgermeister lahmzulegen. Erdogan könne seine Kontrolle über die Zentralregierung nutzen, um die Ressourcen der Stadt einzuschränken. Und tatsächlich scheinen die Stadt und ihre Menschen gerade zum Spielball zu werden im Machtkampf zwischen Regierung und Opposition.
Istanbuls Bürgermeister tut sich beispielsweise schwer, seine Pläne zu finanzieren. „Unglücklicherweise sind die Türen der Staatsbanken zurzeit total versperrt für uns“, sagt Imamoglu. Selbst routinemäßige Kredite für alltägliche Bedürfnisse habe es nach der Wahl nicht mehr gegeben. Versucht da die Zentralregierung, den Neuen auszubremsen?
Eine scharfe Kontroverse dreht sich auch um den geplanten Istanbul-kanal: Eine milliardenteure „Umgehung“für den Bosporus, außerdem ein Lieblingsprojekt des Präsidenten, der es gigantisch mag. Imamoglu findet das Projekt „unnötig“und leistet Widerstand. In seinem Wahlkampf hatte er das Bild einer anderen Stadt gezeichnet. Keine Statussymbole mehr, sondern Projekte für Natur und Kultur, Frauen und Kinder. Ein enger Berater, Sükrü Kücüksahin, drückt es so aus: „Wir tun Dinge, die wenig Geld brauchen, aber Zehntausenden nutzen.“Auf der Liste seiner ersten Erfolge stehen unter anderem elf neue Kindergärten im Bau (von 150 versprochenen) und Milch für etwa 100 000 Babys aus armen Familien. Zwei Frauenhäuser werden eröffnet, zwei Parks seien fertig. Aber die größte Änderung ist eine, die nicht in Zahlen messbar ist: Ein in der Türkei bislang wenig üblicher basisdemokratischer Ansatz. In türkischen Medien ist viel berichtet worden über „calistay“, also Arbeitsgruppen, in denen die Stadt zum Austausch zu bestimmten Themen Vertreter aller beteiligten Gruppen einlud. Dazu kamen große
Umfragen unter Bürgern. Neu ist auch, dass Parlamentssitzungen nun via Stadt-tv und soziale Medien übertragen werden. Transparenz sei die „Hauptregel“des Bürgermeisters, sagt Berater Kücüksahin. „Das ist seine größte Macht. Die Menschen werden zu jeder Zeit wissen, was er tut.“Gleichzeitig dürfte es die Live-regierungsweise Gegnern schwerer machen, Projekte aus parteipolitischen Gründen zu blockieren. Imamoglu hat sogar einige Hochburgen der AKP gewonnen. Viele wählten ihn aus Enttäuschung über die schlechte wirtschaftliche Lage. Diese Protestwähler zu behalten, ist eine große Herausforderung. Denn die Stadt ist wie das Land: tief gespalten entlang von Regierungsund Oppositionslinien. Istanbul ist eine Mini-türkei. Noch ist unklar, wie viele Chancen man dem Neuen geben wird.