Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Rettet das Bistro!
Die Zahl der typischen, gemütlichen Lokale in Frankreich sinkt Jahr für Jahr. Nun stemmt sich ein Bistro-chef gegen den Trend – mit einem ehrgeizigen Plan
Paris Das muss ein echtes Pariser Bistro sein – schon der Geräuschpegel verrät es. Laut klappern Gläser und Teller von der Küche herüber. Die Bedienungen heben die Stimme, um zu erklären, welche Beilagen es zu Kalbskopf oder Karpfenragout gibt oder was es mit dem Dessert namens „Jahrmarkts-erinnerung“auf sich hat: eine mit flüssiger Schokolade überzogene Waffel, auf der ein Berg Schlagsahne sitzt. „Das schmeckt großen und kleinen Kindern.“
Ein echtes Bistro kennt keine festen Servierzeiten, es bietet von vormittags bis spätabends durchgehend warme Küche an. Den Espresso gibt es für 1,20 Euro, das Glas Wein für vier Euro. Herzstück ist die Theke, an der am Morgen der Generaldirektor neben dem Bauarbeiter seinen Kaffee trinkt, sich mittags Büroangestellte mit etwas Herzhaftem stärken und später der Stammgast aus dem Viertel. „Jeder, gleich welcher Herkunft, Hautfarbe oder Nationalität, ist willkommen: Das ist
Bistro-mentalität“, sagt Alain Fontaine. Sein Lokal Le Mesturet in der Nähe der Pariser Börse funktioniert genau nach diesen Prinzipien. Bis zu 400 Gäste werden hier pro Tag verköstigt: Neben den typischen Bistro-gerichten wie Rindertatar stehen auf der Karte vegetarische Speisen wie eine Kürbis-süßkartoffel-lasagne. Diese Mischung aus Modernität und Tradition mache die Bistros aus, sagt der Chef. Der 62-Jährige kämpft dafür, sie am Leben zu erhalten.
Ohne Atempause erzählt Fontaine von seinem Verein, der sich seit 2018 dafür einsetzt, die Pariser Bistro- und Terrassenkultur auf die Welterbeliste der Unesco zu bringen. Beitreten kann man ab einem Mitgliedsbeitrag von drei Euro – dem Preis von einem Croissant mit Espresso an der Theke. „In Paris schließen jedes Jahr etwa 30 Bistros. Heute schätzen wir ihre Zahl auf 1100 bis 1200“, sagt er. „Machten sie vor 30 Jahren noch fast die Hälfte der gesamten Gastronomie in der Stadt aus, so sind es heute gerade mal noch 14 Prozent.“Die Ursachen seien vielfältig: Sie beginnen bei den hohen Mieten und hören beim Arbeitsaufwand längst nicht auf: „Unsere Kinder haben gesehen, dass wir 14, 15 Stunden am Tag arbeiten und nicht viel verdienen. Deshalb studieren sie lieber Jura oder Medizin, statt unsere Lokale zu übernehmen.“Die künftigen Bistro-chefs, davon ist Fontaine überzeugt, werden Flüchtlinge sein – Menschen, die eine Chance ergreifen wollen und vor unermüdlichem Arbeiten nicht zurückschrecken. Auch andere Entwicklungen machen den Bistros zu schaffen: Espresso-maschinen in den Büros, Lieferservices – sie verhindern, dass die Menschen noch ausgehen.
Was tun, um die Bistros zu bewahren? Neben den Vorbereitungen einer Kandidatur für die Unescodie
Liste will die Regierung 1000 neue Lizenzen für Cafés und Bistros am Land ausgeben. Das sei wichtig, sagt Fontaine, um jene Orte der sozialen Durchmischung zu erhalten, wie es ihrer Geschichte entspricht.
Diese begann um 1850, als der Baron Haussmann als Chef-stadtplaner Paris umgestalten ließ. Die Arbeiter, die aus armen ländlichen Gebieten Frankreichs kamen, stärkten sich in kleinen Küchen, wo günstig, einfach und großzügig gekocht wurde, und mit der Zeit entstand, was später zur Institution Bistro wurde. Der Name stammt der Legende nach von russischen Kosaken in Paris, die „bistro, bistro“riefen, wenn es „schnell, schnell“gehen sollte. Vielleicht kommt er aber auch vom französischen Wort „bistraud“– „kleiner Diener“. In jedem Fall sind sie Orte der Begegnung, wo man isst und trinkt, sich ein bisschen weniger einsam fühlt oder einfach beobachtet. Das Leben auf der Straße wird so zur Bühne; ebenso wie in den Bistros, wo fast nie Ruhe herrscht.