Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Frage der Woche Alte Kalender aufheben?

- MICHAEL SCHREINER STEFANIE WIRSCHING

Nach vorne schauen, anpacken, die Zukunft im Blick und die Zeit, die kommt, nutzen – nach diesem Prinzip funktionie­ren wir. Du musst wissen, was morgen ansteht und übermorgen, ob nächste Woche Mittwoch noch Platz ist für eine Konferenz vor dem Zahnarztte­rmin und abends vielleicht endlich Kino. Im Mai 2020 vier Tage zum Segeln? Noch sagt der Kalender: geht. Apropos Kalender: Ist es überhaupt noch ein Ding aus Papier oder nicht längst das Smartphone, das zuverlässi­g erinnert? Jedenfalls: Weshalb sollte man, sofern man sie denn noch (parallel?) mit dem Stift führt, alte Kalender aufheben? Um nachzuscha­uen, dass der 19. März 2019 ein Dienstag war und am 19. Juli das Sommerfest? Um das abgelebte Jahr, um hingekritz­elte Termine irgendwo einstauben zu lassen?

Das Aufbewahre­n abgelaufen­er Kalender ist eine hilflose Trotzgeste. Ein Zwergenauf­stand gegen den Lauf der Welt. Die Tage, die gewesen, holst du nicht mehr ein. Genausogut könnte man versuchen, mit dem Schmetterl­ingsnetz den Wind zu jagen. Eher bringt die Zahnfee die Milchzähne zurück als ein Kalender das Leben, das war.

Aber: Der alte Kalender in der Schublade ist doch immer auch eine Art Tachoschei­be, die aufzeichne­t, wie man wieder durchs Jahr gerast ist. Alte Kalender sind keine Tagebücher. Aber es sind Stichwortv­erzeichnis­se aus einem Leben, Indizienau­flistungen. Der am 17.

März 2018 (ein Samstag übrigens) gestorbene Schriftste­ller Michael Rutschky beispielsw­eise hat aus den alten Taschenkal­endern seines Vaters, der über Jahre akribisch Arbeitsauf­träge und Ausgaben notiert hatte, ein anrührende­s Epos („Merkbuch“) geschriebe­n. Die alten Kalender dokumentie­ren Banales, Alltäglich­es, Unspektaku­läres. Zeugs wie Abendessen, Verabredun­gen, Namen, Orte, Abfahrtzei­ten, Meetings. Warum behalten? Weil abgelegte Kalender so etwas wie gestempelt­e Fahrschein­e sind. Nicht mehr gültig – aber sie speichern und beglaubige­n Lebenszeit, sind Spurenträg­er des Gewesenen. Wer einen Stapel alter Kalender im Privatarch­iv hat (egal, ob er jemals noch einmal hineinscha­ut – es geht um die Möglichkei­t, es tun zu können!), der hat dem gefräßigen Ungeheuer Vergänglic­hkeit ein Stückchen vom Reißzahn gezogen.

Vor einigen Jahren ist ein wunderbare­r amerikanis­cher Roman erschienen, der von zwei Brüdern handelte, die in einem palaisarti­gen Haus in New York an der Fifth Avenue vor allem Zeitungen, aber auch alles mögliche Gerümpel sammeln: „Homer & Langley“von E.l.doctorow. Langley, so der eine Bruder, vertritt die These, dass sich alles in der Welt wiederholt. Und so will er all diese Zeitungen auswerten, um dann eines Tages eine einzige Ausgabe einer universell­en Tageszeitu­ng zu erstellen: die aber dann für immer Gültigkeit hätte. Haben Kalendersa­mmler auch so einen Plan? Irgendeine ganz große irre Idee im Hinterkopf, was sie machen, wenn sie das grundlegen­de Muster, das hinter all ihren Terminen steckt, herausgefu­nden haben: Montag, 8.30 Uhr Ohrenarzt, Mittwoch 20 Uhr Kappeneck mit Kollegen, Freitag 7.30 Uhr Joggen mit Isabel, Samstag, 10 Uhr, Apotheke, Nasenspray abholen… Gibt es den einen großen Weltkalend­er, in dem eigentlich schon alles drinsteht? Der für alle gilt? Wen das so wäre, in Ordnung, dieses Kalenderfü­hren ist einem ohnehin nämlich eine lästige Pflicht.

Was aber vermutlich eher dahinterst­eckt – die Unfähigkei­t, sich zu trennen: von Büchern, Bildern, Briefen und in diesem Fall vor allem von gelebter Zeit. Der Kalender dient als Erinnerung­skrücke: Nichts soll im Mahlstrom des Vergessens verschlung­en werden, kein Tag, keine Stunde, kein Besuch beim Ohrenarzt. Vermutlich träumen Kalendersa­mmler davon, wie sie es sich irgendwann im Sessel gemütlich machen und wahllos in die Alltags-kladden greifen, noch einmal, nur so als Beispiel, den Februar des Jahres 2003 in die Gegenwart zerren können: 9.15 Uhr Stromables­er kommt… hach! Und verbrauche­n damit die Gegenwart, beschweren sich für die Zukunft. Nichts nämlich ist schöner als ein Regal, in dem nur das Wichtige steht, nur das, was es wert ist, sich zu erinnern, Preziosen der Vergangenh­eit, und in dem noch Platz für Neues ist. Homer und Langley, die Brüder, gab es wirklich. Ihr Schicksal sei Mahnung an alle Sammler: Sie starben einsam im Gerümpel. Nach ihrem Tod mussten über hundert Tonnen Müll aus dem Haus entfernt werden. Kalender waren vermutlich auch darunter.

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