Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Die Frage der Woche Alte Kalender aufheben?
Nach vorne schauen, anpacken, die Zukunft im Blick und die Zeit, die kommt, nutzen – nach diesem Prinzip funktionieren wir. Du musst wissen, was morgen ansteht und übermorgen, ob nächste Woche Mittwoch noch Platz ist für eine Konferenz vor dem Zahnarzttermin und abends vielleicht endlich Kino. Im Mai 2020 vier Tage zum Segeln? Noch sagt der Kalender: geht. Apropos Kalender: Ist es überhaupt noch ein Ding aus Papier oder nicht längst das Smartphone, das zuverlässig erinnert? Jedenfalls: Weshalb sollte man, sofern man sie denn noch (parallel?) mit dem Stift führt, alte Kalender aufheben? Um nachzuschauen, dass der 19. März 2019 ein Dienstag war und am 19. Juli das Sommerfest? Um das abgelebte Jahr, um hingekritzelte Termine irgendwo einstauben zu lassen?
Das Aufbewahren abgelaufener Kalender ist eine hilflose Trotzgeste. Ein Zwergenaufstand gegen den Lauf der Welt. Die Tage, die gewesen, holst du nicht mehr ein. Genausogut könnte man versuchen, mit dem Schmetterlingsnetz den Wind zu jagen. Eher bringt die Zahnfee die Milchzähne zurück als ein Kalender das Leben, das war.
Aber: Der alte Kalender in der Schublade ist doch immer auch eine Art Tachoscheibe, die aufzeichnet, wie man wieder durchs Jahr gerast ist. Alte Kalender sind keine Tagebücher. Aber es sind Stichwortverzeichnisse aus einem Leben, Indizienauflistungen. Der am 17.
März 2018 (ein Samstag übrigens) gestorbene Schriftsteller Michael Rutschky beispielsweise hat aus den alten Taschenkalendern seines Vaters, der über Jahre akribisch Arbeitsaufträge und Ausgaben notiert hatte, ein anrührendes Epos („Merkbuch“) geschrieben. Die alten Kalender dokumentieren Banales, Alltägliches, Unspektakuläres. Zeugs wie Abendessen, Verabredungen, Namen, Orte, Abfahrtzeiten, Meetings. Warum behalten? Weil abgelegte Kalender so etwas wie gestempelte Fahrscheine sind. Nicht mehr gültig – aber sie speichern und beglaubigen Lebenszeit, sind Spurenträger des Gewesenen. Wer einen Stapel alter Kalender im Privatarchiv hat (egal, ob er jemals noch einmal hineinschaut – es geht um die Möglichkeit, es tun zu können!), der hat dem gefräßigen Ungeheuer Vergänglichkeit ein Stückchen vom Reißzahn gezogen.
Vor einigen Jahren ist ein wunderbarer amerikanischer Roman erschienen, der von zwei Brüdern handelte, die in einem palaisartigen Haus in New York an der Fifth Avenue vor allem Zeitungen, aber auch alles mögliche Gerümpel sammeln: „Homer & Langley“von E.l.doctorow. Langley, so der eine Bruder, vertritt die These, dass sich alles in der Welt wiederholt. Und so will er all diese Zeitungen auswerten, um dann eines Tages eine einzige Ausgabe einer universellen Tageszeitung zu erstellen: die aber dann für immer Gültigkeit hätte. Haben Kalendersammler auch so einen Plan? Irgendeine ganz große irre Idee im Hinterkopf, was sie machen, wenn sie das grundlegende Muster, das hinter all ihren Terminen steckt, herausgefunden haben: Montag, 8.30 Uhr Ohrenarzt, Mittwoch 20 Uhr Kappeneck mit Kollegen, Freitag 7.30 Uhr Joggen mit Isabel, Samstag, 10 Uhr, Apotheke, Nasenspray abholen… Gibt es den einen großen Weltkalender, in dem eigentlich schon alles drinsteht? Der für alle gilt? Wen das so wäre, in Ordnung, dieses Kalenderführen ist einem ohnehin nämlich eine lästige Pflicht.
Was aber vermutlich eher dahintersteckt – die Unfähigkeit, sich zu trennen: von Büchern, Bildern, Briefen und in diesem Fall vor allem von gelebter Zeit. Der Kalender dient als Erinnerungskrücke: Nichts soll im Mahlstrom des Vergessens verschlungen werden, kein Tag, keine Stunde, kein Besuch beim Ohrenarzt. Vermutlich träumen Kalendersammler davon, wie sie es sich irgendwann im Sessel gemütlich machen und wahllos in die Alltags-kladden greifen, noch einmal, nur so als Beispiel, den Februar des Jahres 2003 in die Gegenwart zerren können: 9.15 Uhr Stromableser kommt… hach! Und verbrauchen damit die Gegenwart, beschweren sich für die Zukunft. Nichts nämlich ist schöner als ein Regal, in dem nur das Wichtige steht, nur das, was es wert ist, sich zu erinnern, Preziosen der Vergangenheit, und in dem noch Platz für Neues ist. Homer und Langley, die Brüder, gab es wirklich. Ihr Schicksal sei Mahnung an alle Sammler: Sie starben einsam im Gerümpel. Nach ihrem Tod mussten über hundert Tonnen Müll aus dem Haus entfernt werden. Kalender waren vermutlich auch darunter.