Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
It’s magic! Berühmte erste Sätze
Schreiben Manchmal werde ich gefragt, ob mir als Journalist denn immer etwas einfalle. Gemeint ist damit nicht, dass mir die Themen ausgehen könnten. Sondern ob mir beim Schreiben alles locker von der Hand gehe. Ich antworte stets schlicht: Ja. Und erkläre, wie wichtig der erste Satz eines Artikels ist. Habe ich den ersten Satz, ergibt sich der Rest wie von selbst. It’s magic!
Der erste Satz setzt den Ton. Bei einer Meldung ist der erste Satz reines Handwerk. Wer hat wann was wo gemacht – und wer oder was ist die Quelle dafür. So liest sich das dann auch: sachlich, korrekt, immer ähnlich. „Die Polizei hat in der
Nacht zum Donnerstag in Delmenhorst ...“Sie kennen das.
Bei einer Reportage ist das anders. Unter anderem, weil ihr Ton ein völlig anderer ist. Bei einer Reportage ist der Einstieg wesentlich kreativer. Er muss Interesse wecken, kann Kommendes andeuten. In etwa so: „Einhunderttausend Mark hat der Abend gekostet, der eine Pleite wurde.“(Klaus Brinkbäumer) Oder so: „Harald
Ehlert, den einige seiner Genossen ein ’Genie’ nennen, andere ein ’größenwahnsinniges Arschloch’, will der Welt noch einmal beweisen, dass er ein guter Mensch ist, als diese Sache mit dem Renault passiert.“(Henning Sußebach und Stefan Willeke)
Bei einer Kolumne kann der erste Satz auch irgendwie persönlich sein, mitunter verschroben. Lesen Sie mal Harald Martenstein, gerne auch seine zweiten und dritten Sätze.
Erste Sätze sind im Journalismus nicht minder wichtig wie erste Sätze in der Literatur. Es gibt weltberühmte erste Sätze. „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“Franz Kafka (unser Foto), „Die Verwandlung“.
Erste Sätze aus Reportagen von Journalisten sind zu Unrecht meist nicht derart berühmt geworden. Ich habe sie – zusammen mit den jeweiligen letzten Sätzen der jeweiligen Reportagen – früher einmal gesammelt. Leider ist mir meine Sammlung abhandengekommen.
Aber beeindruckend fand ich, ich habe es nochmals nachrecherchiert: „Das letzte Krabbenbrötchen meines Lebens schmeckte vorzüglich.“(Benjamin von Stuckrad-barre) Und: „Wenn das Leben im Gefängnis sie wieder besonders traurig macht, dann denkt Leidy Tabares daran, wie sie gestorben ist.“(Peter Burghardt) Und: „Jasmine, die nie ans Telefon geht, geht ans Telefon, 19. Dezember 2007, Mittwoch, es hat geschneit, Jasmine ist zwölf, allein zu Hause.“(Erwin Koch)
Was für Tonlagen, was für Texte! Wie Journalisten zu ihren ersten
Sätzen kommen, ist ein noch weitestgehend unerforschtes Feld, wenn ich es recht sehe. Was gewiss daran liegt, dass man einem Journalisten schlecht in den Kopf blicken kann. Was ein Feldforscher sehen könnte, sind Journalisten, die auf der Suche nach Inspiration Spaziergänge machen – zur Kaffeemaschine oder ums Zeitungsgebäude. Ich gehöre zur Kaffee-fraktion. Ich hole mir einen Espresso, setze mich vor meinen Computer – und lasse die Magie geschehen. Manchmal geschieht es mitten in der Nacht. Für diesen Fall habe ich Zettel und Stift auf dem Nachttischchen liegen. It’s magic! Und Handwerk.