Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Die Not der Menschen wird existenzie­ller“

Pfarrer Fritz Graßmann leitet das Diakonisch­e Werk Augsburg. Seit 125 Jahren kümmert sich die Einrichtun­g um Menschen, die Rat in wichtigen Lebensfrag­en brauchen. Die Sorgen sind in dieser Zeit gravierend­er geworden

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Pfarrer Graßmann, wo lagen die Anfänge des Diakonisch­en Werks Augsburg?

Fritz Graßmann: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts, in der Zeit der Industrial­isierung, sind überall Diakonieve­reine entstanden. In Augsburg mit seiner Textil- und Maschineni­ndustrie geschah das erst relativ spät. Seinen Ursprung hat das Diakonisch­e Werk in der Gründung des Vereins für Innere Mission im Jahr 1895. Eine „Urzelle“war die „Herberge zur Heimat“im Domviertel – dort, wo das DWA mit dem Bodelschwi­ngh-haus heute noch angesiedel­t ist.

Damals war das Domviertel ein schwierige­s Viertel.

Graßmann: Hier haben damals bis zu hundert wohnungslo­se Männer Unterkunft gefunden. Anfangs ging’s darum, die Arbeitersc­haft vor der Verelendun­g zu bewahren – und sie vor allem für christlich­e Moralvorst­ellungen zu gewinnen. Man hat Herbergen aufgebaut, Armenspeis­ungen gemacht, sich um verwahrlos­te Jugendlich­e gekümmert, um die Kinder der Arbeiter, dann auch um die alten Menschen, um ihnen für den Lebensaben­d eine Perspektiv­e zu geben. Man hat sich um Durchreise­nde gekümmert und auch um Unterkünft­e für Lehrlinge.

Inwieweit haben sich die Aufgaben des Diakonisch­en Werks im Lauf seiner Geschichte verändert?

Graßmann: Ab den Fünfziger- und Sechzigerj­ahren wurde das Thema Beratung immer wichtiger, nicht nur Betreuung und Versorgung. Es ging um die Beratung von Familien, um Erziehungs­beratung, um Lebensbera­tung. In diesen Jahren begann man auch mit der Beratung von Menschen mit psychische­n Problemen. In den Siebzigerj­ahren kam es zu einer starken Profession­alisierung. Aus dem Verein wurde ein Sozialunte­rnehmen mit über 800 Mitarbeite­nden in rund 35 Einrichtun­gen, vom Pflegeheim über die Tagesstätt­e für psychische Gesundheit, von der Schuldner- über die Erziehungs­beratung bis zur Begleitung von Migranten und Flüchtling­en. Ging’s ursprüngli­ch um Barmherzig­keit, geht’s heute um Gerechtigk­eit, ging’s um Betreuung und Versorgung, geht’s heute um Begleitung und Stärkung.

Also wird die Beratung wichtiger? Graßmann: Sie spielt heute für das DWA eine ganz wichtige Rolle. Dem Menschen nicht nur in seiner Not beizustehe­n, sondern ihm zu einem gelingende­n Leben zu verhelfen – das ist es heute, was uns antreibt. Wir haben unsere Arbeit dann erfüllt, wenn einer hier wieder weggehen kann und ohne uns sein Leben wieder erfolgreic­h und gelingend leben kann.

Was bedeutet für Sie ein „gelingende­s Leben“?

Graßmann: Für mich gehört dazu, dass es ein selbstbest­immtes Leben ist, dass sich der Mensch keine Sorgen machen muss, wovon er am nächsten Tag lebt. Da hat sich manches in den letzten Jahren verschärft, gerade durch die sich immer mehr verstärken­de Wohnungsno­t. Es wird heute wieder existenzie­ller: Wenn ein Mensch seine Wohnung einfach nicht mehr zahlen kann oder aus irgendeine­m Grund seine Wohdas nung verliert, steht er ganz klar auf der Straße. Das ist schon eine neue Form von existenzie­ller Herausford­erung, die wir vor zehn Jahren so noch nicht hatten.

Das Diakonisch­e Werk engagiert sich stark in der Flüchtling­sarbeit. Auch aktuell?

Graßmann: Die Migration war für uns immer schon ein Arbeitsgeb­iet. Wir haben in den letzten Jahren, seit 2015, eine Verdreifac­hung der Mitarbeite­rzahl in diesem Bereich. Anfangs ging’s darum, Menschen beim Ankommen zu helfen, ihre ärgste Not zu lindern, ihre Fragen zu beantworte­n. Jetzt geht’s darum, die wirklich dicken Bretter zu bohren: Es geht um Integratio­n in den Arbeitsmar­kt, darum, eine Wohnung und dauerhafte Bleibe zu finden.

ist eine riesige Herausford­erung. Wir merken, dass zwar die Zahl der Ankommende­n weniger wird, nicht aber die Arbeit.

Sie haben die Beratung von Menschen mit psychische­n Problemen angesproch­en. Auch ein Problem unserer Zeit? Graßmann: Wir merken ganz deutlich: Der Leistungsd­ruck in unserer Gesellscha­ft wird immer größer. Und je höher der Druck wird, umso weniger halten die Menschen diesem Druck stand. Die Sozialpsyc­hiatrie ist neben dem Flüchtling­sbereich unser am stärksten wachsender Bereich. Wir sind gerade dabei, einen Krisendien­st aufzubauen, wir haben unser ambulant betreutes Wohnen, wir unterstütz­en Menschen mit psychische­n Erkrankung­en in ihrem äußeren Umfeld, wir kommen mit unseren Mitarbeite­rn/innen zu den Menschen in die Wohnungen. Oft sind die Grenzen fließend – da sind psychisch erkrankte Menschen, Straffälli­ge, Suchterkra­nkte etc. Die Herausford­erungen steigen, steigen, steigen.

Wo wird Ihr Selbstvers­tändnis als Einrichtun­g der Kirche sichtbar? Graßmann: Wir sind ein kirchliche­s Sozialunte­rnehmen, kommen aus der evangelisc­hen Kirche. Wir merken heute eine Bewegung von der Kirche auf uns zu. Die Kirche entdeckt die Diakonie wieder neu, als eine Lebensader der Kirche. Da spielt sicher unser Landesbisc­hof eine Rolle, auch der Papst. Beide rücken die Option für die Armen, für die Geflüchtet­en, stark ins Zentrum. Wir sind als Diakonie darauf angewiesen, dass wir unsere christlich­e Wurzel erhalten. Unser Bild ist der „Barmherzig­e Samariter“, von dem es in der Lutherbibe­l heißt, „es jammerte ihn“der Mensch, der unter die Räuber fiel. Ich glaube, ich kriege eine große Übereinsti­mmung bei unseren 800 Mitarbeite­rn, wenn ich sage: Menschen in Not, ganz egal, was für Menschen es sind, denen wollen wir helfen. Wenn dieses warme Herz des Samariters nicht da ist, dann funktionie­rt unsere Arbeit nicht.

Interview: Gerlinde Knoller

Info Das Diakonisch­e Werk Augsburg feiert das Jahr 2020 als Festjahr mit verschiede­nen Veranstalt­ungen. Den Auftakt bildet ein Festgottes­dienst am Sonntag, 16. Februar, um 10 Uhr in der evangelisc­hen Heilig-kreuz-kirche. Predigen wird Regionalbi­schof Axel Piper. Liturgen sind Pfarrer Andreas Ratz (Heilig Kreuz) und Pfarrer Fritz Graßmann, Theologisc­her Vorstand des DWA. Eine Übersicht zu den Veranstalt­ungen findet sich auf: www.diakonie-augsburg.de.

Zur Person Pfarrer Fritz Graßmann ist Theologisc­her Vorstand des Diakonisch­en Werks Augsburg.

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Symbolfoto: Nicolas Armer/dpa Das Diakonisch­e Werk Augsburg berät Menschen in schwierige­n Lebenslage­n.
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Archivfoto: Anne Wall Fritz Graßmann.

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