Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Immer mehr Missbrauchsopfer aus Reitenbuch
Drei Geistliche und ein Nachbar der Einrichtung vergriffen sich an Kindern – diese Täter sind verstorben. Doch es gibt Hinweise auf weitere, die noch leben. Dabei hat die Suche nach Opfern gerade erst begonnen
Fischach-reitenbuch Ein Pfarrer machte Peter W. (Name geändert) das Leben zur Hölle. Im Kinderheim in Reitenbuch wurde er jahrelang sexuell missbraucht. Die Erinnerungen verfolgen ihn bis heute. Der Geistliche hatte das Kind zu sich gelockt, um besondere Übungsstunden für den Ministrantendienst abzuhalten. Doch aus diesem Angebot wurden schwere Übergriffe. Nun wird klar: Die tragische Geschichte von Peter W. ist eine von vielen. Immer mehr Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch melden sich nach unserer Berichterstattung. Dabei hat die Suche nach den Opfern gerade erst begonnen.
Nach unserer Berichterstattung ist eine neu eingerichtete Expertengruppe auf der Suche nach weiteren Missbrauchsopfern in der Zeit von 1950 bis 1985. Bereits jetzt kommen neue Details aus dieser Zeit ans Licht. Im Jahr 2010 leitete die Staatsanwaltschaft Augsburg Vorermittlungen ein, nachdem Missbrauchsund Misshandlungsvorwürfe bekannt geworden waren. Seither sind in der Diözese Augsburg inzwischen Hinweise in Bezug auf 16 Opfer vorgetragen worden. Darunter 15 Buben. Bislang war die Rede von rund einem Dutzend Fällen. Doch weshalb kommen immer mehr Missbrauchsfälle ans Licht?
„Die Aufarbeitung hat mittlerweile einen anderen Stellenwert als noch 2010, als erste Fälle bekannt wurden“, erklärt Reiner Sroka, Leiter des diözesanen Arbeitsstabs zur Behandlung von Missbrauchsfällen. Dass diese Missstände nicht bereits früher aufgeklärt wurden, sei ein „schweres Versäumnis“, erklärt Diözesandirektor Andreas Magg. Ihre Ursachen hätten sie „auch in den aus heutiger pädagogischer Perspektive unmenschlichen Rahmenbedingungen in der Heimerziehung“. Magg spricht von „regelrechten Prügelattacken“und „religiöser Strenge“, die leider nicht mehr ungeschehen gemacht werden könne. Heute könne man nur „für jegliche Form von erfahrener körperlicher und sexuelle Gewalt um Vergebung bitten“.
Vier Täter von damals sind bislang bekannt, sagt Magg. Sie alle sind bereits verstorben. Es handelt sich dabei um drei Geistliche und einen Nachbarn des Kinderheims in Reitenbuch. Er soll mehrmals Kinder zum Pfarrhaus neben dem Jugendheim gelockt haben, laut Magg der zentrale Tatort. Außerdem soll ein bereits verstorbener Nachbar die Kinder auch mit dem Auto in eine Kiesgrube in der Nähe gebracht und dort missbraucht haben.
Der Nachbar sowie die drei Geistlichen könnten aber nicht die einzigen Täter gewesen sein. Die Leiterin der neuen Expertengruppe zur Aufklärung, die ehemalige Präsidentin des Landessozialgerichts Elisabeth Mette, stellt klar: „Es handelt sich offenbar um ein strukturelles System.“Auch mehrere Ordensschwestern sowie ehemalige Mitarbeiter im Kinderheim stehen unter Verdacht. Die Dillinger Franziskanerinnen hatten damals die Einrichtung geleitet. Nach Auskunft der Diözese sind die Franziskanerinnen ein Orden päpstlichen Rechts, der damit nicht der diözesanen Dienst- oder Stiftungsaufsicht untersteht. Die Franziskanerinnen hatten sich „beschämt und erschüttert“gezeigt, als vor knapp zehn Jahren erstmals Vorwürfe laut geworden waren. Damals hatten sieben ehemalige Heimkinder teils mit eidesstattlicher Versicherung über ihre Leidenszeit berichtet. Einige der Ordensschwestern von damals sind noch am Leben.
„Ich habe mir gut überlegt, ob ich mir diese harte Kost im Ruhestand antun will“, sagt Mette. Doch es müsse aufgeklärt werden, wie es dazu kommen konnte, dass Kinder über Jahrzehnte hinweg von verschiedenen Tätern missbraucht wurden. „Diese Dinge müssen ganz ungeschönt ans Licht“, sagt die Juristin Mette.
Diese Aufgabe übernimmt die neu eingerichtete Untersuchungsgruppe, die im Dezember von damaligen Diözesanadministrator, dem neue Augsburger Bischof Bertram Meier, eingesetzt wurde. Zwei weitere frühere hochrangige Richter arbeiten ebenfalls mit: Manfred Prexl, ein ehemaliger vorsitzender Richter des Münchner Oberlandesgerichtes, und Bernhard Koloczek, früher Richter am Bundessozialgericht.
Prof. Gerda Riedl, Leiterin der Hauptabteilung VI – Grundsatzfragen im Bischöflichen Ordinariat, gehört ebenfalls zu dem Gremium. Der pensionierte Jurist Prexl hatte für das Bistum bereits eine Untersuchung zu Gewalt und sexuellem Missbrauch in einem seit 1977 geschlossen Heim in Donauwörth geleitet. Nicht nur das Josefsheim Reitenbuch steht im Fokus, sondern auch das Marienheim Baschenegg in Ustersbach, aus dem bislang keine Vorfälle bekannt sind.
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