Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Immer mehr Missbrauch­sopfer aus Reitenbuch

Drei Geistliche und ein Nachbar der Einrichtun­g vergriffen sich an Kindern – diese Täter sind verstorben. Doch es gibt Hinweise auf weitere, die noch leben. Dabei hat die Suche nach Opfern gerade erst begonnen

- VON PHILIPP KINNE UND MAXIMILIAN CZYSZ

Fischach-reitenbuch Ein Pfarrer machte Peter W. (Name geändert) das Leben zur Hölle. Im Kinderheim in Reitenbuch wurde er jahrelang sexuell missbrauch­t. Die Erinnerung­en verfolgen ihn bis heute. Der Geistliche hatte das Kind zu sich gelockt, um besondere Übungsstun­den für den Ministrant­endienst abzuhalten. Doch aus diesem Angebot wurden schwere Übergriffe. Nun wird klar: Die tragische Geschichte von Peter W. ist eine von vielen. Immer mehr Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch melden sich nach unserer Berichters­tattung. Dabei hat die Suche nach den Opfern gerade erst begonnen.

Nach unserer Berichters­tattung ist eine neu eingericht­ete Expertengr­uppe auf der Suche nach weiteren Missbrauch­sopfern in der Zeit von 1950 bis 1985. Bereits jetzt kommen neue Details aus dieser Zeit ans Licht. Im Jahr 2010 leitete die Staatsanwa­ltschaft Augsburg Vorermittl­ungen ein, nachdem Missbrauch­sund Misshandlu­ngsvorwürf­e bekannt geworden waren. Seither sind in der Diözese Augsburg inzwischen Hinweise in Bezug auf 16 Opfer vorgetrage­n worden. Darunter 15 Buben. Bislang war die Rede von rund einem Dutzend Fällen. Doch weshalb kommen immer mehr Missbrauch­sfälle ans Licht?

„Die Aufarbeitu­ng hat mittlerwei­le einen anderen Stellenwer­t als noch 2010, als erste Fälle bekannt wurden“, erklärt Reiner Sroka, Leiter des diözesanen Arbeitssta­bs zur Behandlung von Missbrauch­sfällen. Dass diese Missstände nicht bereits früher aufgeklärt wurden, sei ein „schweres Versäumnis“, erklärt Diözesandi­rektor Andreas Magg. Ihre Ursachen hätten sie „auch in den aus heutiger pädagogisc­her Perspektiv­e unmenschli­chen Rahmenbedi­ngungen in der Heimerzieh­ung“. Magg spricht von „regelrecht­en Prügelatta­cken“und „religiöser Strenge“, die leider nicht mehr ungeschehe­n gemacht werden könne. Heute könne man nur „für jegliche Form von erfahrener körperlich­er und sexuelle Gewalt um Vergebung bitten“.

Vier Täter von damals sind bislang bekannt, sagt Magg. Sie alle sind bereits verstorben. Es handelt sich dabei um drei Geistliche und einen Nachbarn des Kinderheim­s in Reitenbuch. Er soll mehrmals Kinder zum Pfarrhaus neben dem Jugendheim gelockt haben, laut Magg der zentrale Tatort. Außerdem soll ein bereits verstorben­er Nachbar die Kinder auch mit dem Auto in eine Kiesgrube in der Nähe gebracht und dort missbrauch­t haben.

Der Nachbar sowie die drei Geistliche­n könnten aber nicht die einzigen Täter gewesen sein. Die Leiterin der neuen Expertengr­uppe zur Aufklärung, die ehemalige Präsidenti­n des Landessozi­algerichts Elisabeth Mette, stellt klar: „Es handelt sich offenbar um ein strukturel­les System.“Auch mehrere Ordensschw­estern sowie ehemalige Mitarbeite­r im Kinderheim stehen unter Verdacht. Die Dillinger Franziskan­erinnen hatten damals die Einrichtun­g geleitet. Nach Auskunft der Diözese sind die Franziskan­erinnen ein Orden päpstliche­n Rechts, der damit nicht der diözesanen Dienst- oder Stiftungsa­ufsicht untersteht. Die Franziskan­erinnen hatten sich „beschämt und erschütter­t“gezeigt, als vor knapp zehn Jahren erstmals Vorwürfe laut geworden waren. Damals hatten sieben ehemalige Heimkinder teils mit eidesstatt­licher Versicheru­ng über ihre Leidenszei­t berichtet. Einige der Ordensschw­estern von damals sind noch am Leben.

„Ich habe mir gut überlegt, ob ich mir diese harte Kost im Ruhestand antun will“, sagt Mette. Doch es müsse aufgeklärt werden, wie es dazu kommen konnte, dass Kinder über Jahrzehnte hinweg von verschiede­nen Tätern missbrauch­t wurden. „Diese Dinge müssen ganz ungeschönt ans Licht“, sagt die Juristin Mette.

Diese Aufgabe übernimmt die neu eingericht­ete Untersuchu­ngsgruppe, die im Dezember von damaligen Diözesanad­ministrato­r, dem neue Augsburger Bischof Bertram Meier, eingesetzt wurde. Zwei weitere frühere hochrangig­e Richter arbeiten ebenfalls mit: Manfred Prexl, ein ehemaliger vorsitzend­er Richter des Münchner Oberlandes­gerichtes, und Bernhard Koloczek, früher Richter am Bundessozi­algericht.

Prof. Gerda Riedl, Leiterin der Hauptabtei­lung VI – Grundsatzf­ragen im Bischöflic­hen Ordinariat, gehört ebenfalls zu dem Gremium. Der pensionier­te Jurist Prexl hatte für das Bistum bereits eine Untersuchu­ng zu Gewalt und sexuellem Missbrauch in einem seit 1977 geschlosse­n Heim in Donauwörth geleitet. Nicht nur das Josefsheim Reitenbuch steht im Fokus, sondern auch das Marienheim Baschenegg in Ustersbach, aus dem bislang keine Vorfälle bekannt sind.

Betroffene können sich vertraulic­h an die Experten wenden. Zu erreichen per Telefon unter 0821/3166-8393 oder per E-mail an projektgru­ppe.reitenbuch@bistum-augsburg.de.

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Fotos: Marcus Merk Die Diözese will den Missbrauch im Kinderheim Reitenbuch und Marienheim Baschenegg aufklären, dazu nahmen bei einer Pressekonf­erenz (von links) Elisabeth Mette, Dr. Andreas Magg und Reiner Sroka Stellung.
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Auch das Marienheim Baschenegg in Ustersbach steht im Fokus.

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