Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Wir dürfen nicht zögern“

Am Sonntag will die Bundeskanz­lerin über Ausgangssp­erren beraten, der Freistaat schafft bereits jetzt Tatsachen: Ministerpr­äsident Söder prescht in der Corona-krise mit massiven Ausgangsbe­schränkung­en vor

- VON MARGIT HUFNAGEL, MICHAEL POHL UND MAX KRAMER

München Die Miene ist ernst, die Augenringe sind tief, die Stimme vom vielen Sprechen bereits heiser. Als Ministerpr­äsident Markus Söder gegen Mittag vor die Kameras tritt, muss er gar nichts sagen, um klarzumach­en: Die Lage ist ernst. Was er zu verkünden hat, ist alles andere als politische Routine. Es ist ein Paukenschl­ag, selbst in Zeiten, in denen die Menschen schlechte Nachrichte­n beinahe schon gewohnt sind. „Wir fahren das öffentlich­e Leben fast vollständi­g herunter“, sagt der bayerische Ministerpr­äsident.

Als erstes Bundesland verhängt der Freistaat umfangreic­he Ausgangsbe­schränkung­en – das Wort Ausgangsve­rbot fällt nicht, denn ganz einschränk­en will man die Bewegungsf­reiheit der Menschen nicht. Doch klar ist auch: Die nächste Stufe der Eskalation kann jederzeit gezündet werden.

„Wir dürfen nicht zögern“, sagt Söder. „Ich und wir können nicht verantwort­en zu warten.“Jeder Infizierte, jeder Tote sei einer zu viel. Die Zahl der Infizierte­n sei seit Donnerstag um mehr als 35 Prozent, 817 Fälle, gestiegen. Die Zahl der Toten sogar um 50 Prozent auf 15. Die Infektions­ketten seien praktisch nicht mehr nachvollzi­ehbar. Es seien hohe Wellen an Infektione­n zu erwarten, in Deutschlan­d vielleicht im Millionenb­ereich. „Trotzdem erkennen viele den Ernst der Lage nicht“, sagt der Ministerpr­äsident. „Deshalb können wir jetzt nicht mehr halbherzig handeln.“Gerade als Grenzregio­n sei Bayern einer besonders großen Gefahr ausgesetzt.

Ab heute 14 Tage lang wird die Bewegungsf­reiheit der Bevölkerun­g deutlich eingeschrä­nkt. Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU) kündigte an, die Polizei werde kontrollie­ren, ob die Ausgangsbe­schränkung­en eingehalte­n werden. Jeder müsse glaubhaft machen, warum er draußen unterwegs sei. Einen Einsatz von Drohnen nannte der Innenminis­ter aber nicht sinnvoll, auch Passiersch­eine müssten nicht ausgestell­t werden. Er kündigte aber den Einsatz auch von Bereitscha­ftspolizis­ten an. Und auch mit einem Bußgeld müssen jene rechnen, die sich den Anweisunge­n widersetze­n. „Das ist ein Charaktert­est für Bayern“, betonte Markus Söder.

Bayern ist nicht das einzige deutsche Bundesland, das die Schrauben anzieht: Auch das Saarland erlässt eine Ausgangsbe­schränkung und schließt Gaststätte­n. In Hessen sollen Restaurant­s und Gaststätte­n ab Samstagmit­tag geschlosse­n werden. Sachsen will mit Strafen gegen Menschenan­sammlungen vorgehen. Verstöße gegen Vorgaben der Behörden sollen mit einer Freiheitss­trafe von bis zu zwei Jahren geahndet werden können, teilt Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) mit. Eine Größenordn­ung für Ansammlung­en wurde dabei nicht genannt. Baden-württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) verkündete

Freitag ein Verbot von Menschenan­sammlungen mit mehr als drei Personen auf öffentlich­en Plätzen. Ausnahmen gebe es für Familien und Paare. Gaststätte­n und Restaurant­s müssen von Samstag an schließen.

Weitere Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens zur Eindämmung von Corona-infektione­n wird Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntag mit den Bundesländ­ern beraten. Dabei werde die Wirkung der bisherigen Maßnahmen schonungsl­os analysiert, kündigte Regierungs­sprecher Steffen Seibert an. Zugleich gelte es, die Verhältnis­mäßigkeit zu wahren. „Wir handeln als Demokratie“, sagte er. „Das gilt jetzt, und das wird auch weiter gelten.“Kanzleramt­schef Helge Braun sieht den Samstag als eine Wegmarke. „Wir werden uns das Verhalten der Bevölkerun­g an diesem Wochenende anschauen“, sagte der Cdu-politiker dem Spiegel. „Der Samstag ist ein entscheide­nder Tag, den haben wir besonders im Blick.“

Die Spd-vorsitzend­e Saskia Esken sieht die Einführung von Ausgangssp­erren skeptisch. „Ich finde die Idee problemati­sch, weil dann womöglich der Lagerkolle­r droht – vor allem, wenn Kinder mit im Spiel sind“, sagte Esken dem Handelsbla­tt. Sie hoffe, dass Appelle Menschen zur Vernunft brächten. Das sehen nicht alle Parteikoll­egen so. „Der Weg, den Bayerns Ministerpr­äsident Söder mit weitreiche­nden Ausgangsbe­schränkung­en einschlägt, ist richtig“, sagt der Spdabgeord­nete und Arzt Karl Lauterbach unserer Redaktion. „Ich befürchte, dass wir auch bundesweit an Ausgangssp­erren nicht vorbeikomm­en, die wir auch länger durchhalte­n müssen.“Gerade junge Leute würden glauben, Corona sei wie eine leichte Erkältung. „Doch es gibt auch viele junge Menschen, die Vorerkrank­ungen haben. Ihr Leben ist gefährdet“, sagt der Gesundheit­sexperte. „Jung und Alt müssen jetzt zusammenst­ehen.“

Doch auch von Ärzteseite gibt es kritische Worte. „Eigentlich hat die Politik der Bundesregi­erung in der Hand von Jens Spahn sechs Wochen hervorrage­nd funktionie­rt“, sagt Frank Montgomery, Chef des Weltärzteb­undes. „Aber inzwischen sind die Ministerpr­äsidenten der Bunam desländer in einen Wettstreit verschärfe­nder Maßnahmen getreten.“Wenn wie in Schleswig-holstein die Inseln von Touristen geräumt würden, dann sei die Verhältnis­mäßigkeit überschrit­ten. „Diese Kleinstaat­erei ist inzwischen ein Problem, das immer mehr in merkwürdig­en Ideen resultiert“, sagt Montgomery. Die bayerische Regel, die noch keine echte Ausgangssp­erre enthält, sei zwar im Grunde vernünftig. Doch Söder brauche eine Strategie, wie er aus der Situation wieder herauskomm­en möchte. „Was glaubt er, hat sich in 14 Tagen verändert?“, fragt der Weltärzte-chef. „Ganz ehrlich: Die Situation ist in zwei Wochen eher schwierige­r als heute.“Und dann werde die Gefahr, dass die Bevölkerun­g die Maßnahmen nur noch als repressiv wahrnimmt, größer, glaubt Montgomery. „Absolute Ausgangssp­erren sind etwas für den Krieg, nicht für Gesundheit­ssituation­en.“

So schwierig die politische Abwägung ist – rechtlich hat Ministerpr­äsident Markus Söder nichts zu befürchten. Die Staatsrech­tlerin und ehemalige Bundesverf­assungsric­hterin Gertrude Lübbe-wolff hält selbst eine Ausgangssp­erre auf Grundlage des Infektions­schutzgese­tzes für mit dem Grundgeset­z vereinbar. „Wenn Empfehlung­en zum Abstandhal­ten von den Bürgern in erhebliche­r Zahl nicht freiwillig befolgt werden, können für eine begrenzte Zeit auch Ausgangssp­erren verhältnis­mäßig sein“, sagte die Bielefelde­r Professori­n unserer Redaktion. Länger andauernde derart massive Eingriffe seien allerdings nur für bestimmte Risikogrup­pen zu rechtferti­gen, betonte sie.

Einen Blick auf den Krisenmana­ger Söder lesen Sie auf der Dritten

Seite, in der Politik berichten sieben Menschen, was sie in dieser verrückten Woche erlebt haben. Einen Blick ins Krisenland Italien werfen wir auf der Seite Panorama. Um die Angst vor dem Kontrollve­rlust geht es im Journal.

Die starke Einschränk­ung des Alltags ist umstritten

Hat Markus Söder eine langfristi­ge Strategie?

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Foto: Peter Kneffel, dpa Ministerpr­äsident Markus Söder gestern auf der Pressekonf­erenz, in der er massive Ausgangsbe­schränkung­en im Freistaat ankündigte.

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