Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wenn die Zahlen lügen
Die Statistiken zur Erfassung der mit dem Virus Infizierten sind eine wichtige Richtschnur für politische Entscheidungen. Doch ganz ohne Tücken ist das System nicht, wie ein Vergleich zweier Analyse-institute zeigt
aber sind sie auch korrekt? Denn wer zur gleichen Zeit auf die Homepage der amerikanischen Johns Hopkins-universität klickt, der erhält ganz andere Informationen. 39 502 bestätigte Fälle für Deutschland wurden dort gestern vermeldet – also deutlich mehr. Was sind also die Zahlen wert, an denen nicht nur die Politik ihr Handeln ausrichtet? Selbst Wieler gibt zu: „Wir sind in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können.“
„Zahlen sind scheinbar objektiv und man glaubt ihnen eher“, erläutert André Scherag vom Institut für Medizinische Statistik, Informatik und Datenwissenschaften der Universität Jena. „Sie suggerieren eine Sicherheit. Das ist ja das, was man im Moment gerne hätte.“Doch die derzeit verfügbaren Zahlen haben so ihre Tücken. Das föderale System der Bundesrepublik bringt es mit sich, dass in den Bundesländern unterschiedliche Behörden die Daten erfassen, bündeln und zu unterschiedlichen Zeiten veröffentlichen. So sind die ersten in der Regel die örtlichen Gesundheitsämter. Sie übermitteln ihre Daten an die Landesgesundheitsämter. Je nachdem, wer hier wann mit den Zahlen an die Öffentlichkeit geht, können die Daten von außen betrachtet schon dann nicht mehr übereinstimmen.
Das RKI sammelt die Zahlen aus den Ländern – und hinkt somit schon automatisch mit der Veröffentlichung hinterher. Das wurde etwa am Wochenende deutlich, als manche schon einen abflachenden Verlauf der Neuinfektionen bejubelten. Das RKI verwies aber auf den Zeitverzug: „Am aktuellen Wochenende wurden nicht aus allen Ämtern Daten übermittelt, sodass der hier berichtete Anstieg der Fallzahlen nicht dem tatsächlichen Anstieg der Fallzahlen entspricht. Die Daten werden am Montag nachübermittelt und ab Dienstag auch in dieser Statistik verfügbar sein.“Hinzu kommt: Je stärker die Gesundheitsbehörden belastet sind, umso größer wird der zeitliche Verzug der Meldungen sein. Das RKI bildet mit seinen Zahlen also stets einen Stand aus der Vergangenheit ab: Wer sich krank fühlt, hat sich im Schnitt vor einer Woche angesteckt, er braucht mehrere Tage, ehe sein Testergebnis vorliegt, und dann vergeht erneut Zeit, bis die Gesundheitsämter seinen Fall melden.
Die Johns Hopkins-universität gibt als Quelle ihrer deutschen Zahlen die niederländische Nachrichtenagentur BNO News in Tilburg an, die sich auf Zahlen der Berliner Morgenpost bezieht. Marielouise Timcke, die das Interaktivteam der Funke Mediengruppe leitet, zu der die Morgenpost gehört, hat zwar keinen Kontakt zur Uni – aber durchaus schon bemerkt: „Immer wenn wir manuell neue Zahlen eintragen, haben die irgendwann die gleichen.“Auch die Morgenpost nutzt laut Timcke die Zahlen der Landesgesundheitsämter.
Forscher Scherag warnt aber ohnehin vor Ländervergleichen – und davor, die Zahlen als absolut zu sehen: Während in Deutschland inzwischen eher breit auf Sars-cov-2 getestet werde, werde in Italien aufgrund des akuten Drucks nur sehr selektiv getestet, oder es mangele an Testdurchführungen wie in den
USA. Seit dem 9. März wurden in Deutschland 410 000 Tests gemacht, in Großbritannien im gleichen Zeitraum nur 100000. Die logische Konsequenz: Je weniger getestet wird, umso weniger bestätigte Fälle wird es geben. Deutschland steht also auch deshalb an der Spitze der Corona-statistik, weil seine Laborsysteme gut ausgebaut sind. Und doch sind die Zahlen – egal aus welcher Quelle sie stammen – hilfreich: Für das eigene Land unter konstanten Bedingungen lasse sich die Entwicklung aber dennoch relativ gut ablesen, so Scherag. „In der Regel kann man Trends innerhalb einer Region gut erkennen.“Hinzu komme allerdings eine hohe Dunkelziffer von Infizierten, die auf Basis einer aktuellen chinesischen Studie auf das Zehnfache der vorliegenden Zahlen geschätzt werden müsse. Wer keine schweren Symptome zeigt, lässt sich auch nicht testen und taucht folglich auch in keiner Statistik auf.
Doch abgesehen von den zeitlichen Abständen und der Dunkelziffer stecken die Tücken im Detail: Nehmen wir ein Praxisbeispiel von vor ein paar Tagen, als zwei Coronapatienten starben. Eine Quelle bewiederum richtete da von zwei Toten im Krankenhaus im oberfränkischen Selb – korrekt. Eine andere Quelle berichtete von je einem Toten aus den Landkreisen Wunsiedel im Fichtelgebirge und Tirschenreuth in der Oberpfalz – was ebenfalls korrekt war. Wer nicht aufpasst beziehungsweise nachfragt, kommt am Ende auf vier Todesfälle. Oder gegebenenfalls auch nur auf drei – denn Selb ist die Große Kreisstadt im Landkreis Wunsiedel im Fichtelgebirge.
Kann man also all die Zahlen, die derzeit im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus kursieren, gar nicht für bare Münze nehmen? „Das ist keine Atomphysik, die wir hier haben“, sagt Scherag. Keine Quelle liefere hundertprozentig genaue Daten. Aber die deutschen Behörden und die Johns Hopkins-universität haben hochkonsistente Daten. „Das hilft uns zu erkennen, ob die Dynamik sich ändert, und Maßnahmen zu planen“, so der Professor. „Und man kann der Bevölkerung aufzeigen, welchen Effekt die aktuellen Maßnahmen haben. Wir alle hoffen, die jetzige Entwicklung ähnlich wie in Südkorea auszubremsen.“
„Wir sind in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können.“Lothar Wieler, Präsident des Robert-koch-instituts