Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wie Blinde die Krise erleben

Alfred Schwegler sieht nichts – und unterstütz­t gleichzeit­ig sehbehinde­rte Menschen in Augsburg im Corona-ausnahmezu­stand

- VON JONAS VOSS

Das Coronaviru­s hat den Alltag von Alfred Schwegler nicht allzu sehr durcheinan­der geschüttel­t. Einerseits. Anderersei­ts hat das Virus sein Leben gehörig beeinfluss­t. Wie das sein kann? Schwegler ist sehbehinde­rt – er ist blind, um genau zu sein. Man sollte meinen, der Alltag eines blinden Menschen wird durch all die von Corona hervorgeru­fenen Verhaltens­änderungen gehörig beeinfluss­t: Abstand halten, Hände desinfizie­ren, wann immer es zu Berührunge­n kommt, alleine unterwegs sein, das Haus kaum verlassen.

Doch Schwegler sagt, die aktuelle Lage treffe Blinde an mancher Stelle nicht so schlimm, wie man es vielleicht meinen könnte. „Unser Alltag spielte sich auch vor Corona zu großen Teilen in den eigenen vier Wänden ab.“Zu komplizier­t sei das Leben ohne Sehkraft in einer Großstadt, auch würden die meisten Blinden bei der Arbeit und in der Freizeit nicht von Termin zu Termin hetzen. Er selbst ist bereits in Erwerbsmin­derungsren­te, doch ehrenamtli­ch ist er Leiter der Augsburger Beratungss­telle des Blindenund Sehbehinde­rtenbundes.

Vor Corona war er fast täglich im Büro, kümmerte sich um die Organisati­on von Veranstalt­ungen und bot Beratung an – ob persönlich oder am Telefon. Doch zuletzt war das anders: „Mein Telefon steht jetzt die meiste Zeit still.“Nicht nur, weil sich die meisten Mitglieder in ihre eigenen vier Wände und die Familie zurückgezo­gen hatten – auch Veranstalt­ungen fanden keine mehr statt. Bis in den August hinein hat Schwegler Treffen, Feiern und Busreisen abgesagt. Er erzählt: „Gerade die Begegnungs­nachmittag­e fehlen vielen blinden Menschen besonders.“An diesen Tagen pflegen Mitglieder nicht nur soziale Kontakte. Auch über Probleme könne man sich dann austausche­n.

Das funktionie­re nun zwar auch per E-mail oder Telefon, der persönlich­e Kontakt sei aber einfach nicht zu ersetzen. Wenn blinde Menschen auf sich alleine gestellt sind, bereite der Alltag bereits ohne Corona große Probleme. Der Einkauf in einem großen Supermarkt sei ohne Assistenz undenkbar. „Das ist jetzt ein Vorteil – unser Hilfsnetzw­erk existiert bereits, das Virus wirbelt da nicht so viel durcheinan­der“, sagt Schwegler. Auch die Fahrt im öffentlich­en Nahverkehr stellt aufgrund der möglichen Nähe zu anderen Menschen ein Risiko dar. Jedoch: „Wenn die Leute sehen, dass ein blinder Mensch zusteigt, machen sie sofort Platz.“Und sie wahren seiner Erfahrung nach den Abstand. Allerdings würden viele Blinde Straßenbah­nen und Busse generell meiden – zumindest, wenn sie alleine unterwegs sind.

In Schweglers Fall ist es die Ehefrau, auf die er sich stets verlassen kann. Sie fährt ihn mit dem Auto ins Büro oder auch zum Arzt. Der 63-Jährige sagt: „Die meiste Zeit sind wir jetzt aber zu Hause.“Wie alle anderen eben auch. Hier programmie­rt der gelernte Informatik­er Webseiten oder er arbeitet im eigenen Garten. Wenn er etwas in diesen Tagen – neben seiner ehrenamtli­chen Tätigkeit – besonders vermisst, dann sei das eine Sache: Gottesdien­ste in der Kirche. Erst seit dieser Woche können sie wieder stattfinde­n.

Viele der meist älteren Mitglieder des Blinden- und Sehbehinde­rtenbundes in Augsburg würden gerne in die Kirche gehen, sagt Schwegler. Deswegen hatten er und seine Mitarbeite­r bereits vor Ostern einen Plan ausgearbei­tet. „Wir haben ganz einfach telefonisc­he Gottesdien­ste eingericht­et.“Ein erster Gottesdien­st dieser Art fand am Gründonner­stag statt. Bis Ostermonta­g feierten Schwegler und weitere Mitglieder sechs Andachten und Gottesdien­ste. Dabei lauschten bis zu 50 Zuhörer. Doch nicht nur das. Im Gegensatz zu Online-gottesdien­sten durfte und sollte man auch mitsingen. Und nachdem die telefonisc­hen Kirchgänge­r ihre Sprechmusc­hel während des Gesangs ein wenig auf Abstand hielten, dröhnte der auch nicht mehr den anderen Zuhörern in den Ohren.

Durch die Abende führen die Blindensee­lsorgerin oder der zuständige Diakon des Augsburger Bistums. Weil die Nachfrage danach so groß sei, wolle man das Angebot mindestens noch im Mai und Juni beibehalte­n, erläutert Schwegler. Denn auch wenn Gottesdien­ste jetzt erlaubt sind: Für Blinde und Sehbehinde­rte ist der Kirchgang aufgrund der aktuellen Einschränk­ungen erschwert – etwa bei den Vorgaben zur Abstandswa­hrung.

Info Wer Interesse an einem der Telefon-gottesdien­ste hat, kann sich bei der Beratungss­telle des Bundes in Augsburg melden unter der Telefonnum­mer 0821/455415-0 oder per E-mail an augsburg@bbsb.org

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Foto: B. Mellert Alfred Schwegler unterstütz­t für den Blinden- und Sehbehinde­rtenbund Betroffene in Augsburg. In der Corona-krise ist das schwierig.

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