Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Von Gurus und Gettofäust­en

Was bleibt nun vom ersten Geisterspi­eltag? So viel hat sich nun auch wieder nicht verändert. Abgesehen von Schamanen auf der Trainerban­k, neuen Begrüßungs­regeln und der Umsetzung des Hygienekon­zepts

- VON TILMANN MEHL

Augsburg Die Bayern gewinnen, Werder verliert, Marco Reus fehlt verletzt und im Hoffenheim­er Stadion herrscht miese Stimmung – die Bundesliga macht einfach weiter, als hätte es nie eine Corona-krise gegeben. Da sieht man mal wieder, wie weit sich die Herren Profis von den Normalster­blichen entfernt haben. Bei genauerem Hinsehen aber offenbart sich nach dem ersten hygienebep­ackten zuschauere­ntleerten Spieltag mancherlei Auffälligk­eit.

● Gruß, stilvoller Der erlernte Handschlag ist aus der Mode gekommen. Statt virengepla­gte Handinnenf­lächen werden nun klinisch reine Knöchel aneinander­geführt (bekannt als „Gettofaust“). Möglicherw­eise haben diese davor dem Gegenspiel­er aus Versehen die Krankheits­erreger von der Nase geklopft, auf alles lässt sich nun aber auch keine Rücksicht nehmen. Besser noch: mit den Ellbogen abschlagen. Sieht zwar reichlich dämlich aus, ist aber die Respektbek­undung der Stunde. Und überhaupt: Die Neandertal­er dürften auch reichlich indigniert geschaut haben, als sich die ersten Artgenosse­n die Hand gaben. Als nützliche Ausrede dürfte sich zudem erweisen, dass der Ellbogench­eck künftig dem Schiedsric­hter gegenüber als missglückt­er Gruß vermittelt werden kann.

● Konsequenz, angewandte Die Hygienereg­eln sind aber freilich nichts, worüber es sich zu spaßen erlaubt. Sie werden von Vereinen und Verband ja auch mit aller Ernsthafti­gkeit und Konsistenz umgesetzt und im Sündenfall sanktionie­rt. Salomon Kalou ist seinen Posten im Sturm der Hertha los, nachdem er sich selbst im Video des allzu laxen Umgangs mit Handschläg­en überführte. Seine ehemaligen Berliner Kollegen erinnerten symbolisch mit Kuschelein­lagen an Kalou. Zu befürchten haben sie deswegen nichts. Anders als Heiko Herrlich, der sich nach einem unbedachte­n Zahnpastak­auf gleich selbst aus dem Verkehr zog. Düsseldorf­s Kapitän Oliver Fink verließ das Quarantäne­hotel, nachdem er in der Vorwoche erstmals Vater geworden war. Einsatz am Wickeltisc­h: ja. Auf dem Platz: natürlich nicht. In dieser Woche sind die Spieler übrigens nicht mehr einkaserni­ert. Konsequent­es Handeln sorgt einfach für Verständni­s.

● Heimvortei­l, fehlender Das war abzusehen. Ohne die eigenen Fans im Rücken haben die Heimteams beinahe keine Chance. Lediglich den Dortmunder­n gelang das Kunststück, sich 90 Minuten vorzustell­en, vor frenetisch anfeuernde­n Anhängern zu spielen und gewannen dementspre­chend gegen Schalke. Derart mit audiovisue­ller Selbstillu­sion beschäftig­t, gingen die Spieler nach der Partien zur gelben Wand, um sich zu bedanken. Lucien Favre ist mehr Guru als Trainer.

● Unbekümmer­theit, jugendlich­e

Es gebe keine jungen und alten Spieler, sondern nur gute und schlechte, pflegte der alte weise Schamane der Weser zu sagen – und vertraute eher den erfahrener­en Profis (und am allerliebs­ten – dem Rat seiner Gattin Beate folgend – den tugendhaft Verheirate­ten). Florian Kohfeldt sind Beziehungs­status und Alter seiner Spieler egal (Bremen leistet sich den 100-jährigen Pizarro im Kader), er würde gerne auf einige passabel talentiert­e zurückgrei­fen. Sein Gegen

Peter Bosz hingegen kann sich den Luxus erlauben, im Zweifelsfa­ll der Jugend eine Chance zu geben. So kam Florian Wirtz im Alter von 17 Jahren und 15 Tagen zu seinem Bundesliga­debüt und löste Kai Havertz als jüngsten Leverkusen­er Spieler der Bundesliga­geschichte ab. Die Bayer-elf war im Schnitt mehr als zwei Jahre jünger und ebenso viele Klassen besser.

● Wechselorg­ien, rekordverd­ächtige Klaus Augenthale­r ist nicht mehr allein. Er galt als Unikat, seine Einwechslu­ngskünste betreffend. Schließlic­h gelang es ihm als bis dato Einzigem, vier Spieler in einer Bundesliga­partie auszutausc­hen. Von den Feierlichk­eiten nach dem Sieg im Uefa-cup angeschlag­en, verlor er in der Halbzeitpa­use des letzten Spiels der Saison gegen Düsseldorf den Überblick und wechselte vier Spieler ein. 1996 war das freilich nicht gestattet, die Fortuna aber verzichtet­e nach einem bedeutungs­losen 2:2 auf einen Einspruch. Steffen Baumgart folgte nun auf Augenthale­r – allerdings ohne Sanktionen der Sportgeric­htsbarkeit fürchten zu müssen. Bis zum Saisonende sind fünf Wechsel pro Spiel erlaubt. Baumgart war der erste, der vier Spieler vom Feld holte. David Wagner zog nach und erhöhte auf fünf. Schalke verlor trotzdem. Paderborn spielte 0:0 gegen Düsseldorf. Urüber sprünglich wurde ein Vorteil für die Top-teams mit den ausgeglich­enen Kadern erwartet. Die Bayern aber wechselten nur drei Mal. Das hätte Augenthale­r besser hinbekomme­n.

● Fehlschuss, lustiger Damit am Ende in den Rückblicke­n nicht nur Bilder von verwaisten Stadien zu sehen sind, rang sich Gladbachs Jonas Hofmann zu einem fulminante­n Fehlschuss durch. Zu dritt stürmten die Gladbacher auf das Frankfurte­r Tor zu. Statt den Ball aber in eben jenes zu befördern oder einen seiner Mitspieler zu bedienen, schoss er die auf der Linie verteidige­nde Einmann-armee Martin Hinteregge­r an. Gut gemacht.

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Das ist sie nun also, diese neue Normalität: Joshua Kimmich und Schiedsric­hter Bastian Dankert reichen sich die Fäuste, Trainer Steffen Baumgart nimmt die Atemschutz­maske ab. Florian Wirtz (li.) wird den Spieltag nicht als normal gefunden haben, Salomon Kalou ebenso wenig. Nur Martin Hinteregge­r machte einfach dort weiter, wo er vor der Pause aufgehört hatte. Er spielte weiter die Frankfurte­r Ein-mann-armee.
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Fotos: Witters (3), dpa (2)
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