Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Die Akte Ischgl
Der kleine Tiroler Ort wurde zu einem Hotspot der Corona-pandemie in Europa. Doch wer trägt die Schuld daran? Die Behörden? Die Wirte? Unterdessen repariert Bernhard Zangerl, Betreiber der berühmt-berüchtigten Après-ski-bar „Kitzloch“, Weidezäune – und si
Ischgl „Relax. If you can…“Das Motto des Tourismusverbandes Paznaun-ischgl klingt heute reichlich ironisch. Rein zum Relaxen kommen im Winter ohnehin die wenigsten Skitouristen in das 1600-Einwohner-dorf. Ischgl ist als Partyort bekannt, in den Après-skibars und auf den Hütten am Berg begehen Gäste aus ganz Europa Alkoholexzesse. In Ischgl ist alles möglich, ein „Ballermann der Alpen“. Das Sau-rauslassen und das Sichgehenlassen ist zum Geschäftsmodell geworden. Für die Tiroler Betreiber eines der größten zusammenhängenden Skigebiete in den Alpen bedeutet das Jahr für Jahr Umsätze in Millionenhöhe. 1,4 Millionen Übernachtungen verzeichnete die Region Paznaun-ischgl 2019.
Zumindest einmal durchatmen kann nun Bernhard Zangerl. Den Inhaber des berühmt-berüchtigten Après-ski-lokals „Kitzloch“in Ischgl erreichen wir bei der Arbeit für den elterlichen Hof. „Weidezäune reparieren, die Schafe versorgen“, das sei nun zu erledigen. Der Almauftrieb Ende Mai für das Vieh ist vorzubereiten. Im Sommer ist das Lokal immer geschlossen.
Mittlerweile, sagt Zangerl, habe er sich an die zahlreichen Medienanfragen gewöhnt. Er gebe „nur mehr vier oder fünf Interviews“pro Woche, vor wenigen Wochen waren es noch 15 bis 20. Ruhig und gefasst ist der 25-Jährige, was er sagt, klingt vorbereitet und abgestimmt mit dem, was man von den Tiroler Touristik-verantwortlichen oder den Landesbehörden zu hören bekommt: „Après-ski gehört nach wie vor zu Ischgl dazu“, stellt er fest, aber es müsse und werde sich etwas ändern. Beim Thema Feiern habe es „Entwicklungen gegeben, die aus dem Ruder gelaufen sind“, gibt der Wirt zu.
Der Ruf ist ruiniert – und die Sommersaison steht vor der Tür. Und so ist die Stimmung äußerst angespannt, man fühlt sich „ins Eck gedrängt“. Journalisten, die über den „Viren-herd Ischgl“recherchieren, sehen schon mal einen Stinkefinger. In den Augen der Einheimischen sind sie schuld, dass ihre Gemeinde heute als Virus-schleuder für ganz Europa gilt. Man fühlt sich zu Unrecht verantwortlich gemacht. Man sei ein Sündenbock, denn schließlich sei das Virus ja von China aus über die Welt gekommen – und keine Ischgler Erfindung.
Aus Gier aber, schrieben Ischgltouristen in sozialen Netzwerken, hätten Liftbetreiber, Hoteliers und Tourismusbetriebe trotz Warnungen der isländischen Gesundheitsbehörde über infizierte Heimkehrer die Saison noch eine volle Woche weiterlaufen lassen. Die Warnungen hatten die Tiroler Behörden bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt der Corona-krise, am 5. März, erreicht. Es ist einer der interessantesten Aspekte, der den „Fall Ischgl“nicht nur spannend wie einen Krimi macht – sondern auch zu einem Fall für die Justiz. Es geht um die Schuldfrage. Denn erst am 9. März wurde das „Kitzloch“behördlich geschlossen.
Als am 13. März ab 14 Uhr dann über die Skiorte im Paznauntal und über St. Anton am Arlberg eine Quarantäne verhängt wurde, wollten alle Urlauber gleichzeitig weg. Es kam zu teils chaotischen Szenen und langen Staus. Am 14. und 15. März, einem Wochenende, liefen sogar die Ischgler Skilifte noch. Über Ischgl infizierten sich Tausende – und trugen das Virus in ihre Heimatländer.
Längst ist daher auch über die Frage, ob die Tiroler Behörden nach den ersten Meldungen aus Island richtig gehandelt haben, ein heftiger politischer Streit entbrannt. Er belastet zunehmend die schwarz-grüne Koalition von Kanzler Sebastian
von der ÖVP. Auf der einen Seite das Gesundheitsministerium in Wien unter dem Grünen Rudolf Anschober und der im Övp-geführten Innenministerium angesiedelte Krisenstab der Regierung. Auf der anderen Seite die Tiroler Landespolitik und ihre Behörden – seit eh und je von den Konservativen und damit von der Kanzlerpartei dominiert.
„Alles Menschenmögliche“habe man getan, um die Ausbreitung des Virus in Ischgl zu verhindern, beteuerte der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter, Övp-politiker wie Sebastian Kurz. Alles Menschenmögliche? Zwar wandte sich die Gesundheitsbehörde einen Tag nach den detaillierten Informationen aus Island, am 6. März, an die Hotels, in denen die isländischen Touristen übernachteten. Sie wies die Betreiber an, „Kontaktpersonen mit Symptomen“zu testen. Eigentlich aber hätten alle Kontakte der Isländer – darunter Gäste und Personal aus dem „Kitzloch“, in dem manche der Isländer gefeiert hatten – sofort in häusliche Quarantäne geschickt werden müssen. Egal, ob sie Symptome aufwiesen oder nicht.
Genau das allerdings dürfte unterblieben sein. Einem Bericht des Nachrichtenmagazins Profil zufolge galt zu jenem Zeitpunkt ein entsprechender Erlass des Gesundheitsministeriums in Wien. Doch der wurde offenbar von den Tiroler Behörden nicht umgesetzt. Lediglich eine Angestellte sei in Quarantäne geschickt und getestet worden. „Bei den isländischen Gästen lagen positive Testungen zum Zeitpunkt ihres Aufenthaltes in Tirol definitiv nicht vor“, rechtfertigte sich das Land Tirol dafür in einer Stellungnahme. Zum davereins maligen Zeitpunkt sei „keine Corona-erkrankung in Ischgl festgestellt worden“. Man sei allen Hinweisen aus Island nachgegangen und habe „den Gesundheitszustand aller Mitarbeiter“in den betroffenen Hotels überprüfen lassen.
Wieso aber keine Quarantäne für die Kontaktpersonen? Am selben Tag, als die Informationen aus Island eintrafen, habe es ein Erlassupdate aus Wien gegeben, heißt es dazu. Nur wer sich mindestens 15 Minuten lang und in einem Abstand von weniger als zwei Metern von einem Corona-infizierten aufgehalten habe, sei damals als „enge Kontaktperson“zu werten gewesen. Ein sogenanntes Contact-tracing der betroffenen und schon abgereisten Isländer mittels Befragung sei gar nicht möglich gewesen.
Andererseits sahen die Tiroler Behörden jedoch noch am 8. März keine Notwendigkeit, zumindest die weiter in Ischgl befindlichen Gäste des prall gefüllten „Kitzloch“ausfindig zu machen und zu isolieren. „Für alle Besucherinnen und Besucher, die im besagten Zeitraum in der Bar waren und keine Symptome aufweisen, ist keine weitere medizinische Abklärung nötig“, ließ die Landes-sanitätsdirektion Tirol wissen. Und: „Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich.“
Aus den Informationen der isländischen Gesundheitsbehörde ging aber klar hervor, dass manche der positiv auf das Virus getesteten Ischgl-heimkehrer schon Ende Februar Symptome von Covid-19 entwickelt hatten. Die Tiroler Behörden mussten also Anfang März dakritisierten von ausgehen, dass es in Ischgl ein hohes Infektionsrisiko geben müsse.
„Wenn es Fehler gab, dann müssen die ans Tageslicht gebracht werden“, meinte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz zum Fall Ischgl. Nach Ende der Quarantäne in Tirol und im Zuge der ersten Lockerungen im ganzen Land galt seine erste Reise Tirol und Vorarlberg. Schließlich habe man dort, wie beispielsweise im nur aus Deutschland erreichbaren Kleinwalsertal, „besonders unter der Krise gelitten“. Man müsse unterscheiden, ob in Ischgl jemand „absichtlich Fehler begangen“habe oder ob man sich „aufgrund der schwierigen Situation falsch verhalten“habe, sagte er. Es dürfe kein „blame-game“geben, kein Schwarzer-peter-spiel also – und überhaupt gebe es eine „zu starke Fokussierung“auf Ischgl.
Sebastian Kurz weiß: Ischgl ist ein gefährliches Thema für seine bislang gelungene Inszenierung als perfekter Krisenmanager. Über weite Strecken überließ er es in den vergangenen Wochen lieber Gesundheitsminister Rudolf Anschober, sich mit kritischen Reporter-fragen zum Fall Ischgl herumzuschlagen. Ob dieser Anfang März gegenüber den Tirolern zu zaghaft agiert habe? „Testungen und Kontaktpersonen-management sind von den Behörden vor Ort durchzuführen. Dass es im Fall Ischgl nicht ausreichend gelungen ist, die Ausbreitung zu begrenzen und zu verhindern, ist offensichtlich“, sagt Anschober im Gespräch mit unserer Redaktion. Er verweist auf eine nun eingesetzte Untersuchungskommission in Tirol. Ob es politische Konsequenzen geben wird, „werden die Politiker auf Basis der Ergebnisse der Kommission entscheiden müssen“. Von personellen Konsequenzen will man in Tirol nichts wissen. Nach dem Bericht der Kommission werde zu bewerten sein, „ob und wo man anders entscheiden hätte können“und welche „Strukturen“verändert werden müssen, so ein Sprecher der Landesregierung. Aktiv Fehler eingestehen will man auch heute nicht: Zum „jeweiligen Zeitpunkt, unter Berücksichtigung des jeweiligen Wissensstandes und der rechtlichen Voraussetzungen“habe man „das Menschenmögliche“getan.
Noch im Mai soll das sechs- oder siebenköpfige Gremium, eingesetzt von der Tiroler Landesregierung, die erst noch einen Unterstützer des Landeshauptmanns als Chef erhalten hätte sollen, mit seinen Untersuchungen beginnen. „Alle Akteure“sollen dabei zu Wort kommen und Gelegenheit erhalten, ihre Sicht darzustellen, sagt der jetzige, neue Kommissionsvorsitzende Ronald Rohrer, ehemaliger Vizepräsident des Obersten Gerichtshofs. Der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter habe ihm Einblick in Dokumente der Behörden zugesichert. Auch Verantwortliche des für Tirol so wichtigen Tourismussektors in Ischgl sollen gehört werden – „was nicht heißt, dass hier ein Vorteil für die Branche gefunden werden soll“, so Rohrer. Sein Team ist noch nicht vollzählig. Mit dabei sein werden Epidemie-experten, auch aus dem Ausland. Im Oktober könnte der Abschlussbericht vorliegen.
Viel Arbeit wartet ebenfalls auf Peter Kolba. Der Gründer des österreichischen Verbraucherschutzkurz sammelt Beschwerden von Corona-betroffenen aus Ischgl. Über 5500 sind es mittlerweile – mehr als die Hälfte, rund 3700, aus Deutschland. Kolba hat eine erste Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck eingereicht: gegen Landeshauptmann Platter, den Ischgler Bürgermeister Werner Kurz sowie gegen Seilbahnbetreiber. Am Montag will er eine weitere Anzeige einreichen, diesmal auch gegen den örtlichen Tourismusverband, der wie alle Tiroler Tourismusverbände als Körperschaft öffentlichen Rechts organisiert ist. Kolba stützt sich dabei auf Recherchen des Journalisten Sebastian Reinfeldt, der auf seinem Blog „Semiosis“Berichte von Urlaubern gesammelt hat. Sie alle gehen in eine Richtung: Viele in Ischgl, Touristen wie Einheimische, ahnten schon vor dem 7. März, an dem ein „Kitzloch“-barkeeper positiv getestet worden war, dass in Ischgl das Virus umging.
Für den Herbst plant Kolba eine riesige Sammelklage gegen die aus seiner Sicht Verantwortlichen. Er beschuldigt sie, die notwendigen Maßnahmen in Ischgl hinausgezögert zu haben. „Es geht sowohl um Schmerzensgeld als auch um Schadenersatz“, erklärt er. Ungezählte Urlauber seien aufgrund der verhängten Quarantäne um ihren Verdienst gekommen, bei vielen sei die wirtschaftliche Existenz zerstört – von den 15 gestorbenen Deutschen mit direktem oder indirektem Ischgl-bezug ganz zu schweigen. Über den Sommer werden, so der Verbraucherschützer, einige Deutsche auf dem Zivilrechtsweg Klage einbringen.
Schwere Vorwürfe erheben zudem Saisonarbeiter aus Osteuropa, die das Geschäft in Ischgl am Laufen halten. Einige von ihnen – sie möchten anonym bleiben, da sie fürchten,
Die Stimmung ist erst angespannt
Schwere Vorwürfe der Saisonarbeiter
sonst keine Jobs mehr in Ischgl zu bekommen – legen detaillierte Unterlagen und Aufzeichnungen vor. Diese zeigen, dass Dienstpläne mehrfach umgeschrieben und Entlassungspapiere rückdatiert wurden. Von den Arbeitgebern seien die „Saisoniers“zu einvernehmlichen Kündigungen gedrängt worden – und hätten dennoch bis zur letzten Minute vor der organisierten Abreise aus dem Quarantänegebiet arbeiten müssen, wie sie erzählen. Wer sich arbeitsrechtliche Unterstützung hole, müsse Repressionen im Betrieb fürchten. „Wir wurden einfach entsorgt“, sagt einer.
Als Geschädigte sehen sich aber auch die Ischgler Betriebe. „Eine zweite Welle würden wir hier nicht überleben“, sagt „Kitzloch“-betreiber Zangerl, den Tourismus habe es „am härtesten getroffen“. Immerhin wird weiter investiert, an vielen Hotels wird gearbeitet und renoviert. Die „Trofana-arena“im Ortszentrum, ein großer Partyclub, wurde gleich nach Ende der Quarantäne abgerissen. Etwas Neues soll hier entstehen. Aus den Erfahrungen lernen, das wollen die Ischgler, sagt Andreas Steibl, Geschäftsführer des Tourismusverbandes Paznaun-ischgl. Er spricht von „Qualitätsverbesserungen der Marke Ischgl“und davon, dass Sicherheit nun zum obersten Gebot werden müsse. „So etwas darf nie wieder passieren.“„Anpassungen“soll es deshalb beim Après-ski geben, vor allem bei den Tagestouristen, die mit dem Bus kommen. Die seien es, die „teilweise schon betrunken ankommen“, wie es „Kitzloch“-betreiber Zangerl ausdrückt. Wie er das umsetzen will, wenn er Ende November sein Lokal wieder aufsperrt? „Vielleicht den einen oder anderen Türsteher mehr einstellen und allzu Betrunkene nicht mehr hineinlassen.“Schließlich sei die Nachfrage nach Après-ski eben da, auch trotz der eher gehobenen Preise in Ischgl. „Wir sind die Letzten, die den Behörden die Schuld zuschieben wollen“, sagt Zangerl.