Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Vertrieben im eigenen Land

Millionen Menschen fliehen, ohne Grenzen zu überschrei­ten. Ein oft verschwieg­enes Drama

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Flüchtling­e, Asylbewerb­er, Migranten – sobald Menschen auf der Suche nach Schutz oder einem besseren Leben in großer Zahl Staatsgren­zen überschrei­ten, ist das politische und mediale Echo garantiert. Dann spielt – insbesonde­re nach den hohen Flüchtling­szahlen von 2015/16, mit denen Europa und insbesonde­re Deutschlan­d konfrontie­rt waren – die Sorge eine große Rolle, dass wieder mehr Menschen über das Meer in Länder der Europäisch­en Union gelangen wollen. Viel geringer ist das Aufsehen, wenn es um Flucht und Vertreibun­g innerhalb eines Landes geht. Dabei ist Binnenvert­reibung ein weltweites Phänomen, das viele Millionen Frauen, Männer und Kinder betrifft, Länder destabilis­iert und für Gewalt und Leid sorgt.

Die Politikwis­senschaftl­erin Anne Koch hat sich in ihrer Studie für die Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP) unter dem Titel „Auf der Flucht im eigenen Land“mit dem Phänomen befasst – die Analyse ist letztlich ein Plädoyer für ein stärkeres internatio­nales Engagement gegen die Ursachen für die Vertreibun­g innerhalb der Grenzen eines Staates. Koch weist auf einen für sie entscheide­nden Unterschie­d hin: „Oft wird vergessen, dass die Binnenvert­riebenen meist zu den ärmsten Gruppen in der jeweiligen Bevölkerun­g gehören. Für viele von ihnen würde die Überschrei­tung von Grenzen und erst recht die Flucht in entfernte Länder schon an den fehlenden Ressourcen scheitern.“Es gilt dennoch als wahrschein­lich, dass Menschen, die aus Verzweiflu­ng ihre Heimatregi­on verlassen, potenziell auch außer Landes fliehen. Koch: „Dazu gibt es leider keine verlässlic­hen Zahlen. Aber das ist natürlich eine nahe liegende Annahme.“

Die Zahlen sind alarmieren­d, und zwar schon seit vielen Jahren: Ende 2018 wurden laut einer Erhebung des Internal Displaceme­nt Monitoring Centers in Genf (IDMC) gut 41 Millionen Menschen innerhalb ihres Heimatland­es vertrieben oder befanden sich auf der Flucht. Sicher ist zudem, dass die Zahlen auch im vergangene­n Jahr weiter spürbar angestiege­n ist. Zum Vergleich: Ebenfalls Ende 2018 wurden weltweit knapp 26 Millionen grenzübers­chreitende Flüchtling­e hochgerech­net. Unstrittig ist also, dass es weltweit deutlich mehr Binnenvert­riebene gibt als Menschen, die ihr Land verlassen.

naturgemäß noch nicht erfasst ist, inwieweit der weltweite Kampf gegen die Corona-pandemie die Lage weiter verschärfe­n könnte. Es könne durchaus sein, dass die Aufmerksam­keit für Themen wie Binnenvert­reibung sinkt, wenn der Fokus auf der Corona-krise liegt, sagt Anne Koch im Gespräch mit unserer Redaktion. „Fluchtbewe­gungen innerhalb der Staaten könnten sich verstärken, weil viele Grenzen geschlosse­n sind und so eine grenzübers­chreitende Flucht weiter erschwert wird.“

Die Gründe dafür, dass sich innerstaat­liche Vertreibun­gen und Fluchtbewe­gungen oft im Verborgene­n abspielen, sind ebenso vielfältig wie die Ursachen der Binnenfluc­ht: Zum einen fehlt denjenigen, die sich innerhalb eines Landes auf den Weg machen, internatio­naler Schutz, der ihnen juristisch in dem Moment zukommt, in dem sie eine Grenze überqueren. Auch versuchen viele Regierunge­n, das Problem unter den Teppich zu kehren, weil sie um die Reputation ihres Landes fürchten oder Menschenre­chtsverlet­zungen vertuschen wollen. Für die Expertin ist es auch unter diesem Aspekt wichtig, dass „sich die Erkenntnis durchsetzt, dass man die Probleme nur zusammen mit der jeweiligen Regierung lösen kann“. Es müsse in den betroffene­n Ländern die Einsicht da sein, dass es im eigenen Interesse ist, die Fluchtursa­chen zu bekämpfen, um in einem zweiten Schritt den nationalen Entscheidu­ngsträgern helfen zu können, die Probleme zu lösen.

Dass der Weg dahin mitunter steinig ist, zeigt die Studie am Beispiel Äthiopien – ein Land, das über viele Jahrzehnte immer wieder von großen Vertreibun­gswellen geprägt war. Hungersnöt­e, ethnische Konflikte, staatliche Gewalt oder überdimens­ionierte Infrastruk­turprojekt­e setzten Massen in Bewegung. Neue Hoffnung keimte auf, als der Reformer Abiy Ahmed im April 2018 Ministerpr­äsident wurde. Die weltweit beachtete politische Öffnung des Landes führte zunächst nicht zu einer Eindämmung der Flüchtling­szahlen. Im Gegenteil: Durch Dürren und Überschwem­mungen sowie innenpolit­ische Konflikte stiegen die ohnehin bereits hostatisti­sch hen Zahlen weiter an. Dennoch – dass die Regierung das Problem eingesteht und offen für Lösungsvor­schläge ist, wird als Schritt in die richtige Richtung gewertet.

Anne Koch unterschei­det bei den Ursachen für Binnenfluc­ht und -vertreibun­g zwischen Bewegungen, die unter direkter staatliche­r Beteiligun­g oder eben ohne direktes administra­tives Eingreifen entstehen: In die erste Kategorie fallen Kriege und gewaltsame Konflikte, aber auch große Infrastruk­turvorhabe­n, wie beispielsw­eise große Staudammpr­ojekte. In Kategorie zwei – Ursachen ohne direkte Beteiligun­g des Staates – führt Koch akute oder schleichen­de Naturkatas­trophen sowie organisier­te Kriminalit­ät auf.

All diese grundlegen­den Probleme zeigen, wie schwer es ist, die Binnenvert­reibung zu bekämpfen. Doch Anne Koch sieht Anhaltspun­kte dafür, dass die Sensibilit­ät für dieses Thema gewachsen ist. Nicht nur die Vereinten Nationen haben gezielte Programme gestartet, um betroffene­n Staaten zu helfen, auch andere global agierende Organisati­onen wie das Internatio­nale Rote Kreuz oder die Weltbank sind aktiv. „Ich sehe einen Hoffnungss­chimmer, weil ich den Eindruck habe, dass pragmatisc­he Ansätze stärker verfolgt werden und die Bereitscha­ft in einigen betroffene­n Ländern wächst, aktiv zu werden“, sagt Anne Koch.

„Fluchtbewe­gungen innerhalb der Staaten könnten sich verstärken, weil viele Grenzen geschlosse­n sind.“

Politikwis­senschaftl­erin Anne Koch

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Foto: dpa Äthiopien: Menschen innerhalb des Landes flüchten vor der Dürre.

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