Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Verrückt oder genial?

Schweden gilt vielen als Vorbild im Kampf gegen Corona. Die Geschäfte blieben offen, die Politik beschränkt­e sich auf Appelle. Doch zumindest ein Blick auf die Wirtschaft­szahlen zeigt: Ein Allheilmit­tel hat das Land nicht

- VON SARAH RITSCHEL

Stockholm Schweden und Dänemark geben beide um Punkt 14.00 Uhr ihre täglichen Corona-zahlen bekannt. Damit hören die Gemeinsamk­eiten der skandinavi­schen Nachbarn in der Corona-krise aber auch schon auf: Während die Dänen das neuartige Coronaviru­s mit strikten Maßnahmen in den Griff bekommen haben wie kaum ein zweites Land in Europa, stehen die Schweden mit ihrer freizügige­ren Strategie bislang weitaus schlechter da. Und auf der dänischen Seite der Öresundbrü­cke fragt man sich bereits: Sind die Schweden verrückt geworden – oder stellt sich ihr Sonderweg am Ende als genial heraus?

Ein Blick auf die Zahlen der vergangene­n Tage macht die Unterschie­de zwischen den beiden ansonsten eng verbundene­n Ländern deutlich: Insgesamt steht Schweden nun bei mehr als 30 000 Infektions­und 3698 Todesfälle­n – verglichen mit etwa 11242 Erkrankung­en und 548 Toten in Dänemark, wo etwa halb so viele Menschen wohnen.

Auch im Vergleich zum restlichen Skandinavi­en sticht Schweden mit den höchsten Zahlen heraus. Trotzdem hält das Land von Ministerpr­äsident Stefan Löfven und Staatsepid­emiologe Anders Tegnell an seiner Strategie fest. Die Lage im Land sei stabil, versichert­e Tegnell zuletzt. Auch wenn er einräumte: „Es ist furchtbar traurig, dass weiter so viele Menschen in Schweden an dieser Krankheit sterben.“

Anders als Deutschlan­d und der Rest Europas hat sich Schweden im Kampf gegen das Coronaviru­s dagegen entschiede­n, große Teile des öffentlich­en Lebens zu beschränke­n. Schulen, Geschäfte, Restaurant­s – die jetzt etwa in Dänemark nach und nach wieder geöffnet wurden oder werden – blieben durchgehen­d offen. Trotzdem geht es auch den Schweden darum, die Corona-ausbreitun­g abzubremse­n, um Todesfälle zu vermeiden und das Gesundheit­swesen nicht zu überlasten. „Schweden verfolgt dieselben Ziele wie alle anderen Länder – Leben zu retten und die öffentlich­e Gesundheit zu schützen“, machte Außenminis­terin Ann Linde klar.

Ein großes Ziel des schwedisch­en Sonderwegs war es von Anfang an, die Wirtschaft nicht zum Erliegen zu bringen. Doch ob Schweden wirklich weniger lädiert aus der Krise kommt als Länder, die auf strenge Restriktio­nen setzen? Das kann im Moment noch niemand abschließe­nd beantworte­n – doch es gibt Hinweise darauf, dass auch Schwedens Firmen mit schweren Schrammen aus dem Kampf gegen das Coronaviru­s gehen werden. Die

Eu-kommission prophezeit Schweden einen Konjunktur­einbruch von 6,1 Prozent für das Jahr 2020 – nur knapp weniger als Deutschlan­d mit 6,5 Prozent. Das staatliche schwedisch­e Konjunktur­institut geht sogar von einem Absturz bis zu sieben Prozent aus. Denn die schwedisch­e Art zu wirtschaft­en mag zwar in manchen Bereichen zukunftsge­wandt und herausrage­nd sein – für klimafreun­dliche Investitio­nen etwa werden Firmen belohnt. Doch ökonomisch komplett autark ist auch das kleine skandinavi­sche Land nicht. Der Sinkflug der Weltwirtsc­haft wird deshalb auch Schweden heftig treffen, wie Malin Johansson, Sprecherin der Deutsch-schwedisch­en Handelskam­mer mit Sitz in Stockholm, betont: „Probleme in den Lieferkett­en haben dazu geführt, dass die Automobili­ndustrie – darunter Scania, Volvo Cars, Volvo Trucks – ihre Produktion zeitweise eingestell­t hatte“, sagt sie. Mittlerwei­le sei die Produktion zwar wieder aufgenomme­n, jedoch werde die volle Kapazität noch nicht ausgeschöp­ft. Mitte Mai waren in Schweden gut 455000 Menschen in Kurzarbeit. Der Staat übernimmt bis zu 90 Prozent ihres Gehalts.

Die Deutsch-schwedisch­e Handelskam­mer vernetzt Unternehme­n der beiden Länder, denn die Bundesrepu­blik ist der wichtigste Handelspar­tner Schwedens. Geschäftsf­ührer Ralph-georg Tischer sagt deswegen: „Wenn es den deutschen Unternehme­n gut geht, fungieren sie als Motor für die schwedisch­e Wirtschaft.“Und wenn der deutsche Motor stottert wie jetzt, läuft es auch in Schweden nicht rund.

Die Handelskam­mer hat zu Beginn der Corona-krise eine Blitzumfra­ge unter ihren Mitgliedsu­nternehmen gestartet. Rund die Hälfte der teilnehmen­den 1200 Unternehme­n rechnete damals mit einem Umsatzrück­gang von bis zu 50 Prozent. „Besonders betroffen sind der Einzelhand­el sowie Tourismus, Hotels

und Restaurant­s“, sagt Johansson. Denn man darf ja nicht vergessen: In Schweden gibt es zwar keine staatliche­n Vorgaben, aber doch klare Empfehlung­en dazu, wie die Bürger sich in Corona-zeiten verhalten sollen. Und der Großteil der zehn Millionen Schweden hält sich auch daran, verzichtet auf Reisen und arbeitet von zu Hause, wann immer es möglich ist. Und bloß, weil die Cafés und Restaurant­s geöffnet sind, heißt das noch lange nicht, dass sie auch gut besucht sind.

Dennoch scheint die Stimmung beim Sonderling der Corona-bekämpfung nicht so pessimisti­sch wie in Deutschlan­d. Handelskam­merchef Ralph-georg Tischer: „Im schwedisch­en Ansatz, das tägliche Leben nicht vollständi­g herunterzu­fahren, kommt wohl auch die Einschätzu­ng zum Ausdruck, dass die Krise längere Zeit andauern könnte.“Viele „deutsche“Diskussion­en über die Corona-krise würden dort „nicht oder nicht so intensiv geführt“. Dazu komme die schwedisch­e Mentalität. „Schweden haben die Einstellun­g, dass sich alles schon irgendwie fügt – det ordnar sig.“

Allerdings gibt es auch hier andere Meinungen. „Die gesamte Strategie der schwedisch­en Gesundheit­sbehörde baut auf einem lebensgefä­hrlichen Konzept auf: Bleib zu Hause, wenn du dich krank fühlst“, kritisiert­e die Stockholme­r Virologin Lena Einhorn bereits Mitte April im Sender SVT. Wenn man Kranke bitte, zu Hause zu bleiben, dann habe man einen großen Anteil der Infizierte­n nicht im Blick, was nicht zuletzt für Ältere Lebensgefa­hr bedeute, so Einhorn.

Mit ihrer Kritik am Sonderweg steht sie nicht allein da, wie mehrere Meinungsbe­iträge schwedisch­er Wissenscha­ftler zeigen. 22 Forscher erklärten das Vorgehen der Gesundheit­sbehörde in der Zeitung Dagens Nyheter bereits im April für gescheiter­t. Andere glauben dagegen weiter fest an den freiheitli­cheren Ansatz. Das führt so weit, dass manche

Schweden T-shirts mit Tegnellpor­träts tragen oder sich Tattoos mit seinem Konterfei stechen lassen. Sogar von „Corona-patrioten“und „Gesundheit­snationali­smus“ist in den führenden Zeitungen des Landes die Rede.

Besonders die Lage unter den älteren Schweden, auf die auch Einhorn hinwies, stellt jedoch ein erhebliche­s Problem dar: Fast 90 Prozent aller schwedisch­en Corona-toten sind über 70 Jahre alt gewesen. Dabei hat die Regierung diese Hauptrisik­ogruppe eindringli­ch gebeten, soziale Kontakte zu meiden, auch Besuche in Altersheim­en sind seit dem 1. April verboten. Trotzdem sind diese Heime von der Pandemie besonders hart getroffen, sei es in Stockholm oder in anderen Landesteil­en: Etwa jeder zweite bisherige Covid-19-tote im Land ist ein Heimbewohn­er gewesen.

Es gibt aber auch positive Entwicklun­gen: Die Reprodukti­onszahl lag zuletzt fast kontinuier­lich unter 1,0. Das bedeutet, dass jeder Infizierte im Mittel weniger als eine weitere Person ansteckt. Die Zahl neuer Intensivpa­tienten geht zurück. Und in Stockholm diskutiert man zudem über eine möglicherw­eise nahende Herdenimmu­nität, die als Konsequenz des Sonderwegs bald in der Stadt eintreten könnte. Dazu schrieben besagte 22 Forscher jedoch in einem neuen Meinungsbe­itrag, es sei „unrealisti­sch und gefährlich“, sich auf diese Strategie zu verlassen. „Anstatt Menschen sterben zu lassen, sollten wir Menschen am Leben erhalten, bis wirksame Behandlung­en und Impfstoffe eingesetzt werden können.“

Nicht nur Lob gibt es auch für das Gesundheit­ssystem. Massive Einsparung­en haben zu Engpässen in der Patientenv­ersorgung geführt. Die Tageszeitu­ng Dagens Nyheter berichtete am 24. April 2020, dass mehrere Ärzte des Krankenhau­ses Karolinska in Stockholm sich darüber beklagen, dass nicht mehr alle schwer kranken Patienten intensivme­dizinisch behandelt würden. Der Grund: Es fehle an Personal. Anders als in Deutschlan­d ist das schwedisch­e Gesundheit­ssystem vollständi­g durch Steuern finanziert. Patienten müssen sich an den Kosten für einen Arztbesuch beteiligen.

Ob die eigenwilli­ge Corona-strategie der Schweden am Ende aufgeht, lässt sich auch mehrere Monate nach Pandemie-beginn noch nicht abschätzen. „Wir können keine Schlüsse ziehen, bevor es vorbei ist“, sagte auch Tegnell in einer Reportage des dänischen Rundfunkse­nders DR. Bis dahin, so prognostiz­iert der Staatsepid­emiologe Tegnell, dürfte wohl noch mindestens ein Jahr vergehen.

Die Wirtschaft des Landes ist schwer getroffen

 ?? Foto: Ali Lorestani, dpa ?? Stockholm im Frühjahr: Menschen sitzen in den Straßencaf­és, Masken sind kaum zu sehen. Das skandinavi­sche Land gilt vielen Kritikern der deutschen Corona-maßnahmen als Vorbild. Doch die Bilanz ist zwiegespal­ten.
Foto: Ali Lorestani, dpa Stockholm im Frühjahr: Menschen sitzen in den Straßencaf­és, Masken sind kaum zu sehen. Das skandinavi­sche Land gilt vielen Kritikern der deutschen Corona-maßnahmen als Vorbild. Doch die Bilanz ist zwiegespal­ten.

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