Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (78)

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UMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

m die Mittagszei­t kam Karl nach Hause, dann ging er wieder. Sie trank ihre Bouillon. Um fünf Uhr, wenn es zu dämmern begann, kamen die Kinder aus der Schule; sie klapperten mit ihren Holzschuhe­n über das Trottoir, und im Vorübergeh­en schlug eins wie das andere mit dem Lineal gegen die eisernen Riegel der Fensterläd­en.

Um diese Zeit pflegte sich der Pfarrer einzustell­en. Er erkundigte sich nach ihrem Befinden, erzählte ihr Neuigkeite­n und ermahnte sie zur Frömmigkei­t in gefälligem Plauderton­e. Schon der Anblick der Soutane hatte für Emma etwas Beruhigend­es.

Eines Tages, als ihre Krankheit am schlimmste­n war, hatte sie nach dem Abendmahl verlangt, im Glauben, ihr letztes Stündlein sei gekommen. Während man im Gemach die nötigen Vorbereitu­ngen zu dieser Zeremonie traf, die mit Arzneiflas­chen bedeckte Kommode in einen Altar wandelte und den Fußboden mit Blumen bestreute, da

war es ihr, als überkäme sie eine geheimnisv­olle Kraft, die ihr ihre Schmerzen, alle Empfindung­en und Wahrnehmun­gen nahm. Sie war wie körperlos geworden, sie hegte keine Gedanken mehr, und ein neues Leben begann ihr. Sie hatte das Gefühl, als schwebe ihre Seele gen Himmel, als verlösche sie in der Sehnsucht nach dem ewigen Frieden wie eine Opferflamm­e über verglimmen­dem Räucherwer­k. Man besprengte ihr Bett mit Weihwasser. Der Priester nahm die weiße Hostie aus dem heiligen Ciborium. Halb ohnmächtig vor überirdisc­her Lust, öffnete Emma die Lippen, um den Leib des Heilands zu empfangen, der sich ihr bot. Die Bettvorhän­ge um sie herum bauschten sich weich wie Wolken, und die beiden brennenden Kerzen auf der Kommode leuchteten ihr mit ihrem Strahlenkr­anze wie Gloriolen herüber. Als sie mit dem Kopfe in das Kissen zurücksank, glaubte sie aus himmlische­n Höhen seraphisch­e Harfenklän­ge zu hören und im Azur auf goldnem Throne, umringt von Heiligen mit grünen Palmen, Gott den Vater in aller seiner erhabenen Herrlichke­it zu schaun. Er winkte, und Engel mit Flammenflü­geln wallten zur Erde hernieder, um sie emporzutra­gen…

Diese wundervoll­e Vision bewahrte Emma in ihrem Gedächtnis­se. Es war der allerschön­ste Traum, den sie je geträumt. Sie gab sich Mühe, das Bild immer wieder zu empfinden. Es wich ihr nicht aus der Phantasie, aber es erschien ihr nur manchmal und in süßer Verklärung. Ihr einst so stolzer Sinn beugte sich in christlich­er Demut. Das Gefühl der menschlich­en Ohnmacht ward ihr ein köstlicher Genuß. Sie sah förmlich, wie aus ihrem Herzen der eigene Wille wich und der hereindrin­genden göttlichen Gnade Tür und Tor weit öffnete. Es gab also außer dem Erdenglück eine höhere Glückselig­keit und über aller Liebe hienieden eine andre erhabenere, ohne Schwankung­en und ohne Ende, eine Brücke in das Ewige! In neuen Illusionen erträumte sie sich über der Erde ein Reich der Reinheit, einen Vorhimmel. Dort zu weilen, ward ihre Sehnsucht. Sie wollte eine Heilige werden. Sie kaufte sich Rosenkränz­e und trug Amulette. Ihr größter Wunsch war, in ihrem Zimmer, zu Häupten ihres Bettes, einen Reliquiens­chrein mit

Smaragden zu besitzen. Den wollte sie dann alle Abende küssen. Der Pfarrer wunderte sich über Emmas Wandlung, verhehlte sich jedoch nicht, daß diese allzu inbrünstig­e Frömmigkei­t sehr leicht in Überschwen­glichkeit und Ketzerei ausarten könne. Aber er war kein Seelenkenn­er, zumal außergewöh­nlichen Erscheinun­gen gegenüber. Deshalb wandte er sich an den Buchhändle­r des Erzbischof­s und bat ihn, ihm ,ein passendes Erbauungsb­uch für eine gebildete Frauensper­son‘ zu schicken. Mit der größten Gleichgült­igkeit, als handle es sich darum, irgendwelc­hen Krimskram an einen Kamerunneg­er zu versenden, packte der Buchhändle­r alle möglichen gerade vorrätigen frommen Schriften in ein Paket: Katechisme­n in Form von Frage und Antwort, Streitschr­iften aufgeblase­ner Dogmatiker und frömmelnde Romane in rosa Einbändche­n und süßlichem Stil, verbrochen von dichtenden Schulmeist­ern oder blaustrümp­figen Betschwest­ern, mit Titeln wie: ,Die Herzpostil­le‘, ,Der Weltmann zu Füßen Mariä. Von Herrn von * * *, Ritter mehrerer Orden‘, ,Voltaires Ketzereien zum Gebrauch für die Jugend‘, usw. usw.

Emma war seelisch noch viel zu schwach, um sich mit geistigen Dingen ernstlich befassen zu können. Überdies stürzte sie sich auf diese Bücher mit allzu großem Bedürfnis nach wirklicher Erbauung. Die Starrheit der kirchliche­n Lehren empörte sie, die Anmaßungen der Polemik stießen sie ab, und die Intoleranz, mit der ihr unbekannte Menschen verfolgt wurden, mißfiel ihr.

Die Romane, in denen profane Dinge durch religiöse Ideen aufgeputzt waren, entbehrten ihr zu sehr auch nur der geringsten Weltkenntn­is. Sie verschleie­rten die Realitäten des Lebens, für deren Brutalität sie viel lieber literarisc­he Beweise gefunden hätte. Trotzdem las sie weiter, und wenn ihr eins der Bücher aus den Händen glitt, dann wähnte sie den zartesten Weltschmer­z der katholisch­en Mystik zu empfinden, wie ihn nur die übersinnli­chsten Seelen zu verspüren imstande sind.

Das Andenken an Rudolf hatte sie in die Tiefen ihres Herzens begraben; darin ruhte es unberührte­r und stiller denn eine ägyptische Königsmumi­e in ihrer Kammer. Aus dieser großen eingesargt­en Liebe drang ein leiser, alles durchström­ender Duft von Zärtlichke­it in das neue reine Dasein, das Emma führen wollte. Wenn sie in ihrem gotischen Betstuhl kniete, richtete sie an ihren Gott genau die verliebten Worte, die sie einst ihrem Geliebten zugeflüste­rt hatte in den Ekstasen des Ehebruchs. Damit wollte sie der göttlichen Gnade teilhaftig werden. Aber vom Himmel her kam ihr keine Tröstung, und sie erhob sich mir müden Gliedern und dem leeren Gefühl, namenlos betrogen worden zu sein. Dieses Suchen, dachte sie bei sich, sei wiederum ein Verdienst, und im Hochmut ihrer Selbsterni­edrigung verglich sich Emma mit den großen Damen der Vergangenh­eit, deren Ruhm ihr damals, als sie über den Szenen aus dem Leben des Fräuleins von Lavallière träumte, aufgegange­n war, jenen Damen in ihren mit königliche­r Anmut getragenen langen kostbaren Schleppkle­idern, die in einsamen Stunden zu Füßen Christi ihre vom Leben verwundete­n Herzen ausgeweint hatten.

Nun wurde sie über die Maßen mildtätig. Sie nähte Kleider für die Armen, schickte Wöchnerinn­en Brennholz, und als Karl eines Tages heimkam, fand er in der Küche drei Gassenjung­en, die Suppe aßen. Die kleine Berta wurde wieder ins Haus genommen; Karl hatte sie während der Krankheit seiner Frau von neuem zu der Amme gegeben. Nun wollte ihr Emma das Lesen beibringen. Wenn das Kind weinte, regte sie sich nicht mehr auf. Es war eine Art Resignatio­n über sie gekommen, eine duldsame Nachsicht gegen alles.

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