Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Gustave Flaubert: Frau Bovary (81)
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshungrig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Aus Furcht, sich lächerlich zu machen, schlug Frau Bovary vor, noch nicht in das Theater hineinzugehen und erst einen Spaziergang durch die Hafenpromenaden zu machen. Dabei hielt Karl die Eintrittskarten, die er in der Hosentasche trug, vorsichtig mit seinen Fingern fest und drückte sie gegen die Bauchwand, so daß er sie in einem fort fühlte.
In der Vorhalle bekam Emma Herzklopfen. Als sie wahrnahm, daß sich der Menschenschwall die Nebentreppen nach den Galerien hinaufschob, während sie selbst die breite Treppe zum ersten Range emporschreiten durfte, lächelte sie unwillkürlich vor Eitelkeit. Es gewährte ihr ein kindliches Vergnügen, die breiten vergoldeten Türen mit der Hand aufzustoßen. In vollen Zügen atmete sie den Staubgeruch der Gänge ein, und als sie in ihrer Loge saß, machte sie sichs mit einer Ungezwungenheit einer Principessa bequem.
Das Haus füllte sich allmählich.
Die Operngläser kamen aus ihren Futteralen. Die Stammsitzinhaber nickten sich aus der Entfernung zu. Sie wollten sich hier im Reiche der Kunst von der Unrast ihres Krämerlebens erholen, doch sie vergaßen die Geschäfte nicht, sondern redeten noch immer von Baumwolle, Fusel und Indigo. Das waren Grauköpfe mit friedfertigen Alltagsgesichtern; weiß in der Farbe von Haar und Haut, glichen sie einander wie abgegriffene Silbermünzen. Im Parkett paradierten die jungen Modenarren mit knallroten und grasgrünen Krawatten. Frau Bovary bewunderte sie von oben, wie sie sich mit gelbbehandschuhten Händen auf die goldenen Knäufe ihrer Stöcke stützten. Jetzt wurden die Orchesterlampen angezündet, und der Kronleuchter ward von der Decke herabgelassen. Sein in den Glasprismen widerglitzerndes Lichtmeer brachte frohe Stimmung in die Menschen. Dann erschienen die Musiker, einer nach dem andern, und nun hub ein wirres Getöse an von brummenden Kontrabässen, kratzenden Violinen, fauchenden Klarinetten und winselnden Flöten. Endlich drei kurze Schläge mit dem Taktstocke des Kapellmeisters. Paukenwirbel, Hörnerklang. Der Vorhang hob sich.
Auf der Bühne ward eine Landschaft sichtbar: ein Kreuzweg im Walde, zur Linken eine Quelle, von einer Eiche beschattet. Bauern, Mäntel um die Schultern, sangen im Chor ein Lied. Dann tritt ein Edelmann auf, der die Geister der Hölle mit gen Himmel gereckten Armen um Rache anfleht. Noch einer erscheint. Beide gehen zusammen ab. Der Chor singt von neuem.
Emma sah sich in die Atmosphäre ihrer Mädchenlektüre zurückversetzt, in die Welt Walter Scotts. Es war ihr, als höre sie den Klang schottischer Dudelsäcke über die nebelige Heide hallen. Die Erinnerung an den Roman des Briten erleichterte ihr das Verständnis der Oper. Aufmerksam folgte sie der intriganten Handlung, während eine Flut von Gedanken in ihr aufwallte, um alsbald unter den Wogen der Musik wieder zu verfließen. Sie gab sich diesen schmeichelnden Melodien hin. Sie fühlte, wie ihr die Seele in der Brust mit in Schwingungen geriet, als strichen die Violinenbogen über ihre Nerven. Sie hätte hundert Augen haben mögen, um sich satt sehen zu können an den Dekorationen,
Kostümen, Gestalten, an den gemalten und doch zitternden Bäumen, an den Samtbaretten, Rittermänteln und Degen, an allen diesen Trugbildern, in denen eine so seltsame Harmonie wie um Dinge einer ganz andern Welt lebte… Eine junge Dame trat auf, die einem Reitknecht in grünem Rocke eine Börse zuwarf. Dann blieb sie allein, und nun kam ein Flötensolo, zart wie Quellengeflüster und Vogelgezwitscher. Lucia begann ihre Kavatine in G-dur. Sie sang von unglücklicher Liebe und wünschte sich Flügel. Ach, auch Emma hätte aus diesem Leben fliehen mögen, weit weg in Liebesarmen!
Da erschien auf der Szene Lagardy als Edgard. Er hatte jenen schimmernden blassen Teint, der dem Südländer etwas von der grandiosen Wirkung des Marmors verleiht. Seine männliche Gestalt war in ein braunes Wams gezwängt. Ein kleiner Dolch mit zierlichem Gehänge schlug ihm die linke Lende. Er warf lange schmachtende Blicke und zeigte seine blendend weißen Zähne. Man hatte Emma erzählt, eine polnische Fürstin habe ihn am Strand von Biarritz singen hören, wo er Schiffszimmermann gewesen sei, und sich in ihn verliebt. Seinetwegen habe sie sich ruiniert. Er habe sie dann einer andern zuliebe sitzen lassen.
Derartige galante Abenteuer mit sentimentalem Finale dienten dem berühmten Künstler als Reklame. Der schlaue Mime brachte es sogar fertig, in die Rezensionen der Zeitungen poetische Floskeln über den bezaubernden Eindruck seiner Persönlichkeit und die leichte Empfänglichkeit seines Herzens zu lancieren. Er besaß eine schöne Stimme, unfehlbare Sicherheit, mehr Temperament als Intelligenz, mehr Pathos als Empfindung. Er war Genie und Scharlatan zugleich, und in seinem Wesen lag ebensoviel von einem Friseur wie von einem Toreador.
Sobald er nur auf der Bühne erschien, begeisterte er Emma. Er schloß Lucia in seine Arme, wandte sich weg und kam wieder, sichtlich verzweifelt. Bald loderte sein Haß wild auf, bald klagte er in den zartesten Elegien, und die Töne perlten ihm aus der Kehle, zwischen Tränen und Küssen. Emma beugte sich weit vor, um ihn voll zu sehen, wobei sich ihre Fingernägel in den Plüsch der Logenbrüstung eingruben. Ihr Herz ward voll von diesen wehmütigen Melodien, die, von den Kontrabässen dumpf begleitet, nicht aufhörten, gleich wie die Notschreie von Schiffbrüchigen im Sturmgebraus. Die junge Frau kannte alle diese Verzücktheiten und Herzensängste, die sie unlängst dem Tode so nahe gebracht hatten. Die Stimme der Primadonna erschütterte sie wie eine laute Verkündung ihrer heimlichsten Beichte. Das Scheinbild der Kunst beleuchtete ihr die eigenen Erlebnisse. Aber ach, so wie Lucia war sie doch von niemanden in der Welt geliebt worden! Rudolf hatte nicht um sie geweint, so wie Edgard, am letzten Abend im Mondenschein, als sie sich Lebewohl sagten …
Beifall durchstürmte das Haus. Die ganze Stretta mußte wiederholt werden. Noch einmal sangen die Liebenden von den Blumen auf ihren Gräbern, von Treue, Trennung, Verhängnis und Hoffnungen; und als sie sich den letzten Scheidegruß zuriefen, stieß Emma einen lauten Schrei aus, der in der Orchestermusik des Finale verhallte.
„Warum läßt sie denn eigentlich dieser Edelmann nicht in Ruhe?“fragte Bovary.
„Aber nein!“antwortete sie. „Das ist doch ihr Geliebter!“
„Er schwört doch, er wolle sich an ihrer Familie rächen. Und der andre, der dann kam, hat doch gesagt: ,Nimm, Teure, meine Schwüre an Der reinsten, wärmsten Liebe!‘ Und sie sagt:
,So sei es denn!‘
»82. Fortsetzung folgt