Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Brennpunkt Schlachthof
Nie zuvor stand die Fleischindustrie so sehr im Fokus wie jetzt. Und so sehr am Pranger. Hunderte Schlachthof-mitarbeiter haben sich mit dem Coronavirus infiziert. Wie die Pandemie besorgniserregende Zustände offenlegt – und welche Rolle wir Verbraucher e
Ulm/missen Das Leben ging vor einer halben Stunde. Nun hängen sie da, aufgeschlitzt, ausgenommen. Die warmen Körper dampfen noch, in schmalen Rinnen auf dem Boden fließt das Blut. An den Schlachtund Zerlegebändern stehen Menschen, die den toten Schweinen die Köpfe abtrennen, die mächtigen Schenkel zerteilen, die einmal als Schinken auf einem Brot liegen werden. Hier, im Bauch des Ulmer Schlachthofs, ist es laut und kalt und feucht. Es ist eine Neonlicht-welt. Eine Welt, die auf einmal so stark im Fokus steht wie nie zuvor.
Und das liegt – wie so vieles in diesen ungewöhnlichen Tagen – am Coronavirus. Denn diese Krise ist, wenn man so will, eine Art Brennglas. Eine gigantische Lupe, unter der all das sichtbar wird, was die Menschen so gerne weggeschoben haben. Einer dieser Brennpunkte, mit denen wir uns nun auseinandersetzen müssen, sind eben die Schlachthöfe – weil sich in Deutschland hunderte Mitarbeiter mit Covid-19 infiziert haben. In Bayern gibt es derzeit Reihentestungen an 51 Schlachthöfen. Ende der Woche sollen die Ergebnisse vorliegen.
Angesichts der vielen Vorfälle in Schlachtbetrieben fragt sich nun das ganze Land: Wie funktioniert diese gigantische Fleischindustrie? Warum gibt es gerade bei Schlachthofmitarbeitern so viele Corona-infektionen? Wie sind die Arbeitsbedingungen in den Betrieben? Und: Ist das nun eigentlich der Preis, den wir zahlen müssen für unseren Wunsch nach immer billigerem Fleisch?
Ein kühler Maimorgen in Ulm. In den Produktionshallen des Schlachthofes ist viel los, beim Zerlegen 1,5 Meter Abstand zu halten – kaum möglich. Stephan Lange, der Geschäftsführer von Ulmer Fleisch, geht mit schnellen Schritten durch die Hallen, weicht hier und da einer der vielen Schweinehälften aus, die kopfüber an einer geförderten Rohrbahn hängen und immer weiter fahren – bis sie schließlich zerlegt und zugeschnitten sind und in Kunststoffkisten, Vakuumbeutel und Kartons verpackt werden. Lange deutet auf seine Mitarbeiter, die in weißen Kitteln und blauen Schürzen das Fleisch bearbeiten. „Einen Mund-nasen-schutz zu tragen ist Pflicht, wenn der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann“, sagt Lange. Verstöße gegen diese Pflicht würden geahndet.
Am Schlachthof in Ulm hat es bisher einen Corona-fall gegeben. „Der Mann war unser eigener Mitarbeiter und hat sich im Urlaub bei seiner mit Covid-19 infizierten Schwägerin angesteckt“, sagt Lange. Der Mann habe gegen die Kontaktbeschränkungen verstoßen. Das Risiko, sich im Betrieb zu infizieren, hält er bei den erfolgten Zutrittsund Hygienemaßnahmen für gering – anders sehe das im privaten Umfeld und im Haushalt der Mitarbeiter aus.
700 Menschen arbeiten im Ulmer Schlachthof – 450 davon haben einen Werkvertrag. Sie sind bei einer anderen Firma beschäftigt und wohnen meist in Gemeinschaftsunterkünften. Eine davon liegt in Leipheim im Landkreis Günzburg. Sechs Arbeiter leben dort auf 120 Quadratmetern. Immer wieder gebe es Überprüfungen durch Ulmer Fleisch, ob die Hygienevorschriften eingehalten würden, sagt Lange.
Genau solche Unterkünfte waren in den vergangenen Wochen in den Fokus gerückt, ebenso die Werkverträge, die die Schlachthöfe mit einem Werkvertragsunternehmen schließen. Denn die meisten Mitarbeiter in den Schlachthöfen kommen aus Ungarn und Rumänien. In ihren Heimatländern werden sie angeworben, ausgebildet und dann in Deutschland an den Schlachthöfen eingesetzt. Er wisse auch gar nicht, wie er sonst an so viele Mitarbeiter kommen solle, sagt Lange. Denn der Job im Schlachthof sei bei Deutschen wenig begehrt, die Bewerbungen hielten sich in Grenzen. Für Menschen aus Osteuropa sei die ganze Sache dennoch lukrativ: Etwa 1800 Euro netto pro Monat würden sie verdienen, je nach Steuerklasse. Das sei mehr als qualifizierte Ingenieure in ihren Heimatländern bekämen, erklärt Lange. Alle zahlten deutsche Sozialversicherungen und Steuern und arbeiteten bei deutschen Werkvertragsunternehmen.
Solche Werkverträge, wie sie in der Fleischindustrie üblich sind, sollen ab kommendem Jahr allerdings verboten sein. Ein längst überfälliger Schritt, findet Mustafa Öz, der bayerische Landesbezirksvorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-genuss-gaststätten (NGG). Mit solchen Verträgen auf Abruf und einem Mindestlohnverdienst hätten die Menschen ja auch gar keine andere Wahl, als in eine Gemeinschaftsunterkunft zu ziehen, sagt er. „Die kriegen doch sonst keine Wohnung.“Er habe die Hoffnung, dass sich nun etwas bewegen lasse. „Es ist gut, dass das jetzt in der Öffentlichkeit diskutiert wird und die Politik reagiert – allerdings weisen wir schon seit zehn Jahren auf Probleme in der Branche hin. Es gab nur winzige Änderungen. Erst jetzt, wo es ein Risiko für alle Bürger gibt, da gibt es eine deutlichere Reaktion.“
Die Fleischbranche habe sich massiv verändert, sagt Öz. Früher hätten deutsche Metzger in den Schlachthöfen gearbeitet – und durchaus gutes Geld verdient. Bis zu 10000 Mark im Monat seien möglich gewesen, erklärt der Gewerkschafter. „Doch die Großunternehmen begannen damit, sich einen Preiskampf zu liefern, sie wollten sich gegenseitig unterbieten. Das hat eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, in der man immer billiger produziert hat.“Dann kam die Ostöffnung – und die Schlachthöfe stellten billige Arbeiter aus Osteuropa ein. „Die Unternehmen haben das alles ins Rollen gebracht. Und heute ist es so, dass der Kunde das, was da so billig angeboten wird, auch gerne kauft.“
Würde das Fleisch teurer, könnten auch die Arbeiter mehr verdienen. Öz hat das sogar schon durchgerechnet: Wenn ein Angestellter mit Werkvertrag etwa 15 Euro pro Stunde verdiente statt eines Mindestlohns von 9,35 Euro, dann würde der Preis pro Kilo Fleisch um etwa zwei Euro steigen. „Damit ginschlachtprozess ge es nicht nur den Arbeitern besser, man könnte auch mehr auf das Tierwohl achten“, sagt Öz. Und spricht damit diesen anderen großen Punkt an, über den derzeit so viel geredet wird.
Denn die Zustände, unter denen die Mitarbeiter der Schlachthöfe vielerorts arbeiten und leben müssen, sind ja nur die eine Seite der Geschichte. Die andere: die Tiere, die millionenfach in den Fleischfabriken getötet werden. Wie viele es genau sind, verraten die Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Im Jahr 2019 wurden in Deutschland in gewerblichen Schlachtbetrieben 55 Millionen Schweine getötet, außerdem 3,1 Millionen Großrinder, 322000 Kälber sowie 1,1 Millionen Schafe und Lämmer.
Schon seit vielen Jahren prangern Tierrechtsorganisationen Missstände in den Schlachthöfen an, immer wieder kommen Fotos von gequälten Tieren ans Licht. Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, macht in einem Pressestatement deutlich: „Neben den Arbeitsbedingungen sind es eben auch Tierschutzfragen, die geklärt werden müssen. Warum etwa wird immer noch hingenommen, dass hunderttausende Tiere ohne ausreichende Betäubung in den gehen?“Nur brächten die notwendigen besseren Arbeitsbedingungen nicht automatisch auch ein Mehr an Tierschutz, meint Schröder. „Im Übrigen auch nicht das Ende von Billigfleisch, das sei angemerkt.“
Der Preis also. Ein sensibler Punkt. Weil er schließlich fast alle betrifft – zumindest diejenigen, die Fleisch essen. Und er trifft die Menschen da, wo sie wohl am empfindlichsten sind: beim Geld. Und bei der unangenehmen Frage, wie viel uns ein Leben eigentlich wert ist. Wie viel wir für ein Steak, ein Grillwürstchen, ein Schnitzel ausgeben wollen. Und was das mit unserem Gewissen macht. Fleisch zum Schleuderpreis: Ist das moralisch vertretbar? Aldi findet offenbar: ja. Erst vor wenigen Tagen verkündete der Discounter-riese, die Preise für Fleisch und Wurst – die in den Filialen ohnehin schon sehr niedrig sind – drastisch senken zu wollen.
Ein grauer Mainachmittag im Oberallgäu. Die Wolken hängen so tief über den Bergen, dass es so aussieht, als wollten sie die Gipfel kitzeln. Auf einer Wiese im beschaulichen Unterwilhams grasen etwa 20 Kühe, vor dem Zaun steht ein Mann in einem grauen Arbeitsanzug, der sich die vom Wind zerzausten Haare aus dem Gesicht streicht. Der Mann heißt Herbert Siegel. Er ist Biobauer und sieht die Sache mit der Moral und dem Gewissen völlig anders.
Wenn er hört, zu welchen Ramschpreisen Fleisch verkauft wird, könnte er aus der Haut fahren. „Viele Verbraucher wollen immer noch billigeres Fleisch. Das kann dann nur billig produziert werden. Es muss überall eingespart werden. Das trifft die Mitarbeiter, die kaum Geld verdienen, und die Tiere“, sagt Siegel und schaut auf die Kühe auf seiner Weide. Siegel hängt an seinen Tieren. Er würde ihnen nie die Hörner entfernen, kastriert werden sie auch nicht, die Kälber wachsen bei ihren Müttern auf. Und – das ist das ganz Besondere an Bauer Siegel – er würde seine Rinder niemals in einen Schlachthof bringen. Sie werden auf der Weide geschlachtet.
Wenn man ihn fragt, warum er sich so entschieden hat, dann erzählt Siegel die Geschichte von diesem einen jungen Rind, das er einmal in den Schlachthof gefahren hat. Siegel verlud das Tier, das er so oft gekrault und gestreichelt hatte, in einen Anhänger und fuhr nach Kempten. „Am Schlachthof war das Tier völlig nassgeschwitzt. Es war aggressiv und hat am ganzen Körper gezittert“, erzählt der Landwirt. „Es war einfach schrecklich. Den Blick dieses Tieres werde ich nie vergessen.“Dann also die Kehrtwende, für die der Bauer eine spezielle Genehmigung hat. Jetzt kommt ein Jäger vorbei, um Siegels Rinder auf der Weide zu schießen.
Für Ungarn und Rumänen ist der Job lukrativ
Schlachten auf der Weide – ist das die Zukunft?
Bevor es knallt, bekommen sie zur Ablenkung noch eine Kleinigkeit zu fressen. Nach dem Schuss ins Gehirn blutet das Tier in einer mobilen Schlachtbox aus, bevor es in einem Schlachthaus zerlegt wird. Etwa 30 Tiere pro Jahre werden hier auf diese, Siegel zufolge stressfreie Art getötet – Tendenz steigend. Denn die Nachfrage wächst.
Dass derzeit so viel über Schlachthöfe gesprochen wird, sei wichtig, sagt Siegel, streckt seine Hand über den Zaun und krault eines seiner Rinder an der Nase. „Viele fordern zwar mehr Tierwohl und ein gutes Steak – was aber dazwischen passiert, das haben viele nicht auf dem Schirm. Ich finde aber, dass jeder, der Fleisch isst, einmal einen Schlachthof von innen gesehen haben sollte.“
Ist das vielleicht die Zukunft? Schlachten auf der Weide, dort, wo das Tier gelebt hat? Siegel schüttelt den Kopf und blickt nachdenklich hinüber zu seinen Kühen. „Ich will nicht sagen, dass meine Art gut ist und die andere böse. Solange Fleisch so billig ist und massenhaft produziert wird, funktioniert das nur industriell.“Siegel hält kurz inne und fügt dann hinzu: „Wir brauchen einfach ein Umdenken. Es kann doch nicht sein, dass sich die Menschen einen Grill für 1000 Euro kaufen und beim Fleisch kann es nicht billig genug sein.“
Zurück in Ulm. Einer Welt, die sich nicht deutlicher von der Allgäuer Idylle unterscheiden könnte. Mit Neonlicht statt sonnenbeschienen Hügeln, mit Grau statt Grün. 35 000 Schweine und 2500 Rinder werden hier pro Woche geschlachtet. Geschäftsführer Lange sitzt in seinem Büro und deutet auf einen Bildschirm. Alle Bereiche des Betriebs kann er dort sehen. Etwa den, wo die Tiere aus den Transportern abgeladen werden. Oder die Hallen, in denen die Mitarbeiter die Schweine zerlegen. Oder den vielleicht sensibelsten Bereich: die Betäubung der Tiere und das Entbluten. Nach dem Betäuben rutschen die Schweine auf ein Förderband, ein Mitarbeiter überprüft bei jedem Tier, ob es vollständig betäubt ist. Dann werden sie an einem Haken befestigt, der sie in die Höhe zieht. Ein paar Meter weiter dann der endgültige Stich. Das Leben ist gerade gegangen.