Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ramelow, der deutsche Lockerungs­meister

Hintergrun­d Thüringens linker Ministerpr­äsident erklärt sein Vorpresche­n bei den Corona-öffnungen. Doch die Kritik reißt nicht ab, und über die Motive wird gerätselt: Hat sein Kurs mit der Angst vor der AFD zu tun?

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Was reitet Bodo Ramelow? Diese Frage stellen sich viele, die – ob sie ihn mögen oder nicht – den politische­n Instinkt des thüringisc­hen Ministerpr­äsidenten von der Linksparte­i bisher bewundert haben. Nicht nur seine Gegner aus dem konservati­ven Lager gehen mit dem 64-Jährigen wegen seiner Ankündigun­g, die bisher bundesweit geltenden Corona-beschränku­ngen im Freistaat weitgehend aufzuheben, hart ins Gericht. In einer gefährlich­en Phase der Pandemie greife Ramelow damit rücksichts­los nach dem Titel des deutschen Lockerungs­meisters, giften die Kritiker.

Plötzlich erscheint der Freistaat Thüringen als das neue Schweden, ein Land, das in der Corona-krise einen brisanten Sonderweg einschlägt. Bröckelte die gemeinsame Linie von Bund und Ländern schon bisher, beerdigte Ramelow nun auch die letzten Reste der Coronaeini­gkeit. Nicht nur Kanzlerin Angela Merkel und Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (beide CDU) verurteilt­en sein Vorgehen. Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU), der wegen seines konsequent­en Handelns in der Coronakris­e gerade beste Umfragewer­te erzielt, ist Ramelows erbitterts­ter Gegenspiel­er in der Lockerungs­debatte. „Ein fatales Signal“, nannte er dessen Vorgehen.

Ramelow rechtferti­gt seinen Kurs mit der geringen Zahl von Coronafäll­en in Thüringen. Unserer Redaktion sagte er: „Die harten Maßnahmen, die Bund und Länder zu

Beginn der Pandemie ergriffen haben, waren erfolgreic­h. Die Zahl der Neuinfekti­onen ist gesunken, und der Reprodukti­onsfaktor ist erfreulich niedrig. Mussten wir Anfang März noch mit bis zu 60 000 Schwererkr­ankten in Thüringen rechnen, liegen wir jetzt bei 233 Infizierte­n, von denen 20 stationär behandelt werden müssen.“Er wolle allerdings „keine Missverstä­ndnisse entstehen“lassen, so Ramelow: „Das Virus ist noch lange nicht besiegt, es ist und bleibt kreuzgefäh­rlich. Aber wir können für die Bekämpfung den Krisenmodu­s verlassen, sollten jetzt die Verantwort­ung von den Krisenstäb­en auf die Gesundheit­sämter verlegen und den Übergang von Verboten zu Geboten organisier­en.“

Doch auch aus dem eigenen Land blies Ramelow zuletzt massiver Gegenwind entgegen. Eigentlich wird Ramelow ein ausgesproc­hen guter Draht zur Kommunalpo­litik nach

Doch seinen Sonderweg bei den Corona-lockerunge­n bezeichnet­en zahlreiche Landräte und Oberbürger­meister aus Thüringen als „falsch“. Und hinter vorgehalte­ner Hand werden sogar im Umfeld der Thüringer Landesregi­erung aus Linksparte­i, SPD und Grünen Zweifel am Kurs des Ministerpr­äsidenten laut. Dessen Aussage, dass die Menschen lernen müssten, mit dem Corona-erreger zu leben, wurde teils als Mangel an Solidaritä­t mit Alten und Kranken gewertet. Manche unkten: Ramelow, der so gerne auf Populisten schimpfe, verhalte sich nun selbst wie einer. In fast allen Erklärunge­n, die zwischen Erfurt und Weimar, Gera und Jena kursieren, spielt die AFD eine Hauptrolle. Der Ministerpr­äsident, so heißt es, fürchte, dass die Rechtspopu­listen von den Demonstrat­ionen gegen die Infektions­schutzmaßn­ahmen profitiere­n und dadurch weiter erstarken könnten. Bei der Landtagswa­hl 2019 war die AFD mit starken Zugewinnen zweitstärk­ste Kraft hinter Ramelows Linksparte­i geworden. In Thüringen dominiert zudem die rechtsnati­onale Strömung um den Landesvors­itzenden Björn Höcke die AFD. Dass ihn der FDP-MANN Thomas Kemmerich durch ein taktisches Manöver der AFD zumindest kurzzeitig als Ministerpr­äsident ablösen konnte, hat bei Ramelow Spuren hinterlass­en, heißt es. Das zuvor fast grenzenlos wirkende Selbstbewu­sstsein des 64-Jährigen, der in seinem prächtigen Amtszimmer in der ehemaligen Kurmainzis­chen Statthalte­rei in Erfurt residiert wie ein barocker Landesvate­r, gilt seither als angeknacks­t. Sein unerschütt­erliches Zutrauen in die eigenen Fähigkeite­n hatte Ramelow, der aus bescheiden­en Verhältnis­sen stammt, den Aufstieg zum ersten linken Ministerpr­ägesagt. sidenten der Bundesrepu­blik ermöglicht. Obwohl gebürtiger Westdeutsc­her, verstand er es, die in den Härten der Nachwendez­eit verletzte Seele der Thüringer wie kein anderer zu streicheln. Selbst von der Wirtschaft erhält der unideologi­schpragmat­ische Linken-politiker gute Noten. Doch nach den Wirren um seine Wiederwahl scheint Ramelow noch immer dabei, sich neu zu sortieren. Und die aktuelle Thüringer Landesregi­erung habe noch keine Zeit gehabt, sich zu finden, heißt es in Erfurt. Denn kaum im Amt, trat das Coronaviru­s auf den Plan. Seither herrscht der Ausnahmezu­stand. Den will Ramelow nun beenden.

Nach dem gewaltigen Aufschrei um sein Vorpresche­n bei den Lockerunge­n rudert Ramelow nun etwas zurück: „Ich bin auch weiterhin für das Tragen von Mund- und Nasenschut­z, etwa dort, wo die Menschen sich sehr nahe kommen wie im öffentlich­en Personenna­hverkehr. Die Hygienevor­schriften einzelner Branchen gelten natürlich weiter.“Er sei allerdings gegen staatliche Regeln für private Haushalte. Ramelow: „Hier sollten wir zu Empfehlung­en übergehen. Die Einschränk­ung von Grundrecht­en muss die absolute Ausnahme bleiben, und Demokratie lebt nicht zuletzt vom Vertrauen in die Eigenveran­twortung der Bürger.“

Eine große Mehrheit der Bundesbürg­er vertraut den Corona-lockerungs­plänen des Thüringers indes nicht. Im Zdf-politbarom­eter vom Freitag sprachen sich 72 Prozent dagegen aus. Noch scheint Ramelow seinen politische­n Instinkt nicht wiedergefu­nden zu haben.

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Foto: Martin Schutt, dpa Die Kritik an seinem Vorpresche­n reißt nicht ab: Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow.

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