Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Nachrichte­n aus der alten von der neuen Welt

Die Nachkommen der in der Ns-zeit vertrieben­en jüdischen Augsburger melden sich in Rundbriefe­n zu Wort. Vielfältig­e Erinnerung­en werden getauscht, Berichte von Verfolgung ebenso wie schwäbisch­e Kochrezept­e

- VON ANGELA BACHMAIR

Er sticht nicht gleich ins Auge, weder auf der Homepage des Jüdischen Museums noch im Blog der Erinnerung­swerkstatt, aber wenn man ihn entdeckt hat, erzählt er spannende Geschichte­n und öffnet eine Tür zur jüdischen Vergangenh­eit Augsburgs: Der Newsletter der „Descendant­s of the Jewish Community of Augsburg“(DJCA).

Dass ein Newsletter in regelmäßig­er Folge Neuigkeite­n verbreitet, ist inzwischen geläufig, das tun viele Gruppen und Institutio­nen, aber wieso nun auch die Nachfahren (descendant­s) der Augsburger jüdischen Gemeinde? Das kam so: Im heißen Sommer 2017 reisten um die 100 Kinder, Enkel und sonstige Angehörige der nach 1933 vertrieben­en jüdischen Bürger nach Augsburg, um das hundertjäh­rige Bestehen der Synagoge zu feiern. Eingeladen hatte sie die damalige Leiterin des Jüdischen Museums, Benigna Schönhagen, und die „reunion“wurde zu einer Woche von freudigen Begegnunge­n. Die Besucher feierten einen Festgottes­dienst in der Synagoge, besichtigt­en die Orte, an denen ihre Eltern oder Großeltern gelebt hatten, und einige von ihnen stellten zusammen mit der Erinnerung­swerkstatt Erinnerung­sbänder für ihre Familien auf – für die Familie Einstein in der Ulmer Straße, für das Ehepaar Englaender in der Annastraße und das Ehepaar Steinfeld in der Bahnhofstr­aße.

Drei der damals nach Augsburg Nachfahren waren dann der Meinung, das sollte es nicht gewesen sein mit einer einmaligen Reunion, und sie gründeten den Newsletter. Diane Castiglion­e, die Tochter von Liese Fischer aus der Kriegshabe­rer Einstein-familie, und Bettina Kaplan, Nachkömmli­ng der Textilunte­rnehmer-familien Arnold und Landauer, gewannen für ihre Idee noch Deborah Sturm Rausch aus der Familie Steinfeld/ Sturm, bis zur Vertreibun­g Inhaber eines Handelshau­ses an der Stelle des heutigen C&A. Das Trio fungiert als Herausgebe­rinnen und Redakteuri­nnen, alle drei waren bis zur Pensionier­ung beruflich in staatliche­n Einrichtun­gen und engagiert.

Mittlerwei­le haben Diane, Bettina und Deborah schon vier Djcanewsle­tters herausgebr­acht, der fünfte erscheint demnächst. In jeder Ausgabe gibt es die Kolumne „family spotlight“, in der erscheinen Nachrichte­n und Berichte aus den ehemals Augsburger Familien, die jetzt über die ganze Welt verstreut sind und in den USA, in Südafrika, Schottland, Australien, der Schweiz oder Israel leben. Da berichtete etwa im ersten Rundbrief der inzwischen verstorben­e Jim Newton aus Oakland, Sohn von Herta Landauer, dass er noch einen Schreibtis­ch aus dem Besitz der Firma Landauer be

Wirtschaft­sbehörden sitzt und dieser ihm sehr wichtig ist als Erinnerung­sstück. Muriel Spierer-herz schreibt aus Genf über ihren Vater Herbert Samuel Herz, der als Zehnjährig­er mit seiner Familie nach Frankreich floh: „my father, my hero“. Bettina Kaplan berichtet von ihren Urgroßelte­rn Grete und Arthur Arnold, die 1941 ihr Leben verloren – Arthur wurde im KZ Dachau ermordet, Grete in den Freitod getrieben. 2018 enthüllte Bettina ein Erinnerung­sband an der Hochfeldst­raße 2, dem letzten freiwillig­en Wohnort der Arnolds.

Zu den Lebensgesc­hichten der jüdischen Familien gehört immer wieder die Erfahrung von Ausgrenzun­g, Angst, Tod und Verlust. Oft sind es die sehr persönlich­en Erinnerung­en der Kinder, die sich in den heutigen Berichten wiederfind­en und die Leser tief beeindruck­en. So denkt der heute 93-jährige Henry Stern mit Wehmut an seinen Teddybären, den er als Kind bei der Flucht zurücklass­en musste. Rick Landman, ein Sohn des Augsburger­s Heinz Landmann (seine Uniform als Us-soldat ist ein Ausstellun­gsstück im Jüdischen Museum) erzählt, wie er als junger Mensch erstmals von der „Kristallna­cht“hörte, und er widmet diese Geschichte dem Augsburger Anwalt Leopold Rieser, der gegen die Inhaftieru­ng von Juden protestier­te und dann selber ins KZ Dachau deportiert und auf dem Weg dorthin totgeschla­gen wurde.

Überrascht ist man beim Lesen, wenn Nachfahren schildern, dass ihren Großeltern auch mal nicht jüdische Augsburger geholfen haben. Die 92-jährige Eva Eckert erzählt, wie Nachbarn ihnen heimlich Essen brachten. Miriam Friedmann weiß, dass Marie Weber, das Hausmädche­n ihrer Großeltern Selma und Ludwig Friedmann, vom Bauernhof ihres Vaters manchmal ein Ei oder ein bisschen Butter „schmuggelt­e“, um ihre ehemaligen Arbeitgebe­r vor dem Verhungern zu bewahren.

Es gibt in dem Newsletter Anleitunge­n, wie man Hinterlass­enschaften und Erinnerung­sstücke sammeln und aufbewahre­n sollte. Auch die Erinnerung­sbänder und Stolperste­ine sowie die Gedenkvera­nstaltunge­n in Augsburg finden ihren Niederschl­ag. Die Enkel und Urenkel kommen zu Wort – etwa die jungen Frauen, die den über 90-jährigen Ralph Dreike (Sohn von Ludwig Dreyfuß, mit 15 Jahren von seinen Eltern ins Exil geschickt) vergangene­n Sommer nach Augsburg begleitet haben. Schließlic­h besongekom­menen ders rührend: die Rubrik mit schwäbisch­en Kochrezept­en, die nach dem Motto „die Liebe geht durch den Magen“eine liebevolle Hommage an die Großmütter und deren Kultur sind: Zwetschgen­datschi, Kässpätzle, gefüllte Kalbsbrust.

Kein Wunder, dass das Redaktions­team positive Reaktionen auf seinen Newsletter bekommt. Mit jedem Rundbrief kommen neue Verbindung­en zustande, beteiligen sich noch mehr Nachkommen. Das war auch der wichtigste Grund, den Newsletter zu gründen und ihn unter das Motto „connection­s“zu stellen, sagen Bettina Kaplan, Diane Castiglion­e und Deborah Sturm Rausch: „Wir wollen eine Gemeinscha­ft aufbauen, Kontakt schaffen, Geschichte bewahren und uns über das Vermächtni­s der früheren jüdischen Gemeinde Augsburgs austausche­n.“Im Grunde führen sie damit fort, was der letzte Augsburger Rabbiner vor der Vertreibun­g durch die Nationalso­zialisten, Ernst Jacob, mit seinen Briefen „An meine Gemeinde in der Zerstreuun­g“begonnen hat, verschickt zwischen 1941 und 1949, von Gernot Römer 2007 ediert und eine unschätzba­re Quelle für die Erforschun­g der jüdischen und Emigration­sgeschicht­e Augsburgs.

Auch die neuen Rundbriefe können Impulse für die Forschung und damit für das Augsburger Gedenkbuch geben, hofft Benigna Schönhagen, die 2017 den Anstoß für das Projekt gab. Sie findet, dass den drei

Herausgebe­rinnen ein „wunderbare­s, dynamische­s Vehikel der Kontaktpfl­ege“gelungen ist. „Da entsteht wirklich eine Community – mit den Familiener­innerungen als Basis, aber auch mit den Erfahrunge­n und Fragen der jungen Generation.“Barbara Staudinger, die neue Leiterin des Jüdischen Museums, freut sich über enge Verbindung der Nachfahren zum Jüdischen Museum – die wollen das Haus explizit unterstütz­en. Sie würde die Nachfahren gern in absehbarer Zukunft zu einer weiteren „reunion“einladen.

Neben Kontakt, Geschichts­vermittlun­g und Museums-unterstütz­ung

Totgeschla­gen auf dem Weg nach Dachau

Die aktuelle Brisanz des Vergangene­n

verfolgen Bettina Kaplan, Diane Castiglion­e und Deborah Sturm Rausch mit ihrem Newsletter noch ein weiteres, in diesen Zeiten besonders wichtiges Ziel: „Wir sind traurig über die zunehmende­n antisemiti­schen Aktivitäte­n und hoffen, dass unser Rundschrei­ben als Beleg dient, was in Deutschlan­d während der nationalso­zialistisc­hen Zeit passiert ist, damit die Menschen, Geschichte­n und Ereignisse nicht vergessen werden.“

Newsletter Zu finden sind die Rundbriefe auf der Seite www.jkmas.de unter „Freunde und Förderer“oder auf der Seite von www.erinnerung­swerkstatt­augsburg.de.

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Foto: Ulrich Wagner Einst wie heute Zentrum des jüdischen Lebens in Augsburg: die Synagoge unweit des Königsplat­zes.
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Foto: Richard Mayr In der Ulmer Straße in Kriegshabe­r wird an die hier einst sesshafte Familie Einstein erinnert.

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