Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Tödlicher chinesisch-indischer Grenzkonflikt
Soldaten der beiden Atommächte liefern sich im Himalaja die schwerste Auseinandersetzung seit über 50 Jahren. Bei den Kämpfen fällt kein Schuss – dennoch sterben mindestens 20 Soldaten
Peking/neu Delhi Nur mit Stöcken, Steinen und blanken Fäusten kämpften Soldaten der beiden Atommächte Indien und China stundenlang im Dunklen gegeneinander. Bei der Auseinandersetzung auf 4200 Meter Höhe und Temperaturen unter null Grad fiel kein Schuss. Dennoch starben mindestens 20 indische Soldaten, wie die Zeitung Indian Express am Mittwoch berichtete. Es ist die schlimmste Eskalation zwischen den beiden Ländern seit über 50 Jahren. Der Tod so vieler Soldaten schockiert ganz Indien, das gerade mit den schweren Folgen der Coronapandemie kämpft.
Indien, das China militärisch nicht das Wasser reichen kann, befindet sich in einer angespannten Situation. Premierminister Narendra Modi warnte in einer Tv-ansprache China, die indischen Opfer seien „nicht umsonst gestorben“. Letzter Auslöser für die Konfrontation war offenbar ein Zelt, das die chinesische Armee am Südufer des Galwanflusses im Himalaja-gebirge errichtet hatte. Das Gebiet galt bislang zumindest als „Puffer-zone“an der unmarkierten Grenze zwischen Indien und China.
Der Streit um das Zelt im Niemandsland eskalierte in der Nacht von Montag auf Dienstag, als eine Gruppe indischer Soldaten unbewaffnet vor dem chinesischen Zelt erschien, um die Angelegenheit verbal zu klären. Offenbar schlugen dann jedoch die beiden Seiten mit Knüppeln und Bambusstöcken aufeinander ein und bewarfen sich mit Steinen. Dabei wurden auch Soldaten in den Fluss gestoßen – sie starben vermutlich an Unterkühlung. Indien behauptet, dass auch 35 chinesische Soldaten ums Leben gekommen seien. Peking machte dazu jedoch keinerlei Angaben. Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums erklärte lediglich, das Galwan-tal habe immer schon zu China gehört. Noch in der vergangenen Woche hatte Indiens Armeechef Manoj Mukund Naravane erklärt: „Ich möchte allen versichern, dass die gesamte Situation an der Grenze zu China unter Kontrolle ist.“In diesem Monat hatte es bereits zwei kleinere Auseinandersetzungen zwischen indischen und chinesischen Soldaten gegeben.
Die 3500 Kilometer lange Grenze zwischen Indien und China ist nie offiziell anerkannt worden – weder von chinesischer noch von indischer
Seite. Seit dem Waffenstillstand im indisch-chinesischen Krieg von 1962 teilt lediglich eine „Line of Control“die beiden Länder. Gerade im unwirtlichen Himalaja-gebirge ist der Verlauf dieser Kontrolllinie nicht markiert und zudem strittig. Das Galwan-tal im indischen Ladakh, wo die 20 indischen Soldaten starben, war vor gut 50 Jahren bereits Schauplatz einer militärischen
Eskalation zwischen den beiden Staaten. Im September 1967 kamen bei Scharmützeln zwischen der indischen und der chinesischen Seite 88 indische und mehr als 300 chinesische Soldaten ums Leben.
Nun wird spekuliert, warum der Konflikt zwischen Indien und China nach so vielen Jahrzehnten plötzlich wieder hochkocht. Der indische Außenpolitik-experte Brahma Chellaney erklärte auf Twitter, Indien habe sich von China überrumpeln lassen. In der Coronavirus-pandemie gehe es China darum, seine Macht auszubauen, um im eigenen Land nicht als schwach zu erscheinen. Der chinesische Vorstoß in Hongkong mit einem neuen Sicherheitsgesetz für stärkere Kontrolle über die Sonderverwaltungszone passe ebenso in dieses Bild wie Chinas aggressives Verhalten im Südchinesischen Meer.
Indien sorgt sich hingegen schon seit längerem um die wachsende Macht Chinas in Südasien. Satellitenbilder zeigen, dass beide Seiten ihre Präsenz an der indisch-chinesischen Grenze in den vergangenen Wochen verstärkt haben. Indien hat in der Himalaja-region an der Grenze zu China neue Straßen gebaut. Auch Indiens Entscheidung, die bislang autonome Region Ladakh im August 2019 ganz in den indischen Zentralstaat zu integrieren, hatte Peking, das in dem Gebiet ebenfalls territoriale Ansprüche anmeldet, verärgert. Das Galwan-tal gehörte aber bislang nicht zu den umstrittenen Gebieten. Die Vereinten Nationen zeigten sich besorgt über die Eskalation: Un-chef Antonio Guterres forderte beide Seiten auf, „größtmögliche Zurückhaltung“walten zu lassen.