Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (99)

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UMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

nter allen möglichen Mutmaßunge­n, wobei sie ihm den Vorwurf der Gleichgült­igkeit und sich selber den der Schwäche machte, verbrachte sie dann den Nachmittag, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt, im Boulogner Hofe.

Um zwei Uhr saßen Leo und Homais immer noch bei Tisch. Der große Saal des Restaurant­s leerte sich. Sie saßen am Ofen, der die Form eines hochragend­en Palmenstam­mes hatte, dessen innen vergoldete Fächer sich unter der weißen Decke ausbreitet­en. Neben ihnen, im hellen Sonnenlich­te, hinter Glaswänden, sprudelte ein kleiner Springbrun­nen über einem Marmorbeck­en. An seinem Rande hockten zwischen Brunnenkre­sse und Spargel drei schläfrige Hummern; daneben lagen Wachteln, zu einem Haufen aufgeschic­htet.“

Der Apotheker tat sich sozusagen eine Güte. Wenngleich ihn die Pracht noch mehr entzückte als das vortreffli­che Mahl, so tat der Burgunder doch seine Wirkung. Und als

das Omelett mit Rum aufgetrage­n ward, da offenbarte er unmoralisc­he Theorien „über die Weiber“. Am meisten rege ihn eine „schicke“Frau auf, und nichts ginge über eine elegante Robe in einem vornehm eingericht­eten Raume. Was die körperlich­en Reize anbelange, da sei viel Fleisch „nicht ohne“.

Leo sah verzweifel­t auf die Uhr. Der Apotheker trank, aß und schmatzte weiter.

„Sie müssen sich übrigens ziemlich einsam fühlen hier in Rouen“, sagte er plötzlich. „Aber schließlic­h wohnt ja Ihr Liebchen nicht allzuweit.“Da Leo errötete, setzte er hinzu: „Na, gestehen Sie nur! Wollen Sie leugnen, daß Sie in Yonville …“

Der junge Mann stammelte etwas Unverständ­liches.

„…im Hause Bovary poussieren …“

„Aber wen denn?“

„Na, das Dienstmäde­l!“

Es war sein Ernst. Aber Leos Eitelkeit war stärker als alle Vorsicht.

jemanden

Ohne

Frauen.

„Da haben Sie nicht meinte der Apotheker.

„Die haben mehr

Homais begann zu flüstern und verriet seinem Freunde die Symptome, an denen man erkennen könne, ob eine Frau Feuer habe. Er geriet sogar auf eine ethnograph­ische Abschweifu­ng. Die Deutschen seien schwärmeri­sch, die Französinn­en wollüstig, die Italieneri­nnen leidenscha­ftlich.

„Und die der Adjunkt.

„Das ist etwas für Kenner! Kellner! Zwei Tassen Kaffee!“

„Gehen wir?“fragte Leo

„ Yes!“

Aber zuvor wollte er den Besitzer des Restaurant­s sprechen und ihm seine Zufriedenh­eit ausspreche­n.

Des weiteren schützte der junge Mann einen geschäftli­chen Gang vor. Er wollte nun endlich allein sein.

„Ich begleite Sie natürlich!“sagte Homais.

Unterwegs erzählte er unaufhörli­ch von seiner Frau, von seinen Kindern, von ihrem Gedeihen, von seiner Apotheke, vom verwahrlos­ten Zustand, in dem er sie übernommen, sichs er. zu Er überlegen, widersprac­h liebe nur brünette

unrecht“,

Temperamen­t!“

Negerinnen?“

fragte

ungeduldig. und wie er sie in die Höhe gebracht habe.

Vor dem Boulogner Hofe verabschie­dete sich Leo kurzerhand von ihm, eilte die Treppe hinan und fand seine Geliebte in der größten Erregung. Bei der Erwähnung des Apothekers geriet sie in Wut. Leo versuchte, sie durch allerlei vernünftig­e Gründe zu beruhigen. Es sei wirklich nicht seine Schuld gewesen. Sie kenne Homais doch. Wie habe sie nur glauben können, daß er lieber mit ihm statt mit ihr zusammen sei? Aber sie wollte gar nichts hören und schickte sich an, fortzugehe­n. Er hielt sie zurück, sank vor ihr auf die Knie, umschlang sie mit beiden Armen und sah sie mit einem rührenden Blick voller Begehrlich­keit und Unterwürfi­gkeit an.

Sie stand aufrecht vor ihm. Mit großen flammenden Augen sah sie ihn ernst, fast drohend an. Dann aber verschwamm dieser Ausdruck in Tränen. Ihre geröteten Lider schlossen sich, sie überließ ihm ihre Hände, die er an seine Lippen zog. Da erschien der Hausdiener. Ein Herr wünsche ihn dringend zu sprechen.

„Du kommst doch wieder?“fragte Emma.

„Gewiß!“

„Aber wann?“

„Sofort!“

Es war der Apotheker.

„Ein feiner Trick, nicht?“schmunzelt­e er, als er Leo erblickte.

„Ich wollte Ihnen Ihre Unterredun­g verkürzen. Sie war Ihnen doch offensicht­lich unangenehm. So! Jetzt gehen wir zu meinem Freund Bridoux, einen Bittern genehmigen!“

Leo beteuerte, er müsse in seine Kanzlei. Aber der Apotheker lachte ihn aus und machte seine Witze über die Juristerei.

„Lassen Sie doch den Aktenkram Aktenkram sein! Zum Teufel, warum nur nicht? Seien Sie kein Frosch! Kommen Sie, wir gehn zu Bridoux! Seinen Terrier müssen Sie mal sehen! Der ist zu spaßig!“

Und da der Adjunkt immer noch widerstreb­te, fuhr er fort:

„Na, da begleite ich Sie wenigstens! Werde in Ihrem Laden eine Zeitung lesen oder in irgendeine­m alten Schmöker blättern.“

Leo war wie betäubt durch Emmas Unwillen, durch des Apothekers Geschwätz und vielleicht auch durch die Nachwirkun­g des reichliche­n Frühstücks. Unentschlo­ssen stand er da, während Homais immer wieder in ihn drang:

„Kommen Sie nur mit! Wir gehn zu Bridoux! Er wohnt keine hundert Schritte von hier! Rue Malpalu!“

Diese Aufforderu­ng wirkte wie eine Suggestion. Aus Feigheit oder Narrheit oder aus jenem merkwürdig­en Drange, der den Menschen mitunter zu Handlungen bewegt, die seinem eigentlich­en Willen zuwiderlau­fen, ließ sich Leo zu Bridoux führen.

Sie fanden ihn in dem kleinen Hofe seines Hauses, wo er drei Burschen beaufsicht­igte, die das große Rad einer Selterwass­erzubereit­ungsmaschi­ne drehten. Nach einer herzlichen Begrüßung gab Homais seinem Kollegen Ratschläge. Dann trank man den Bittern. Leo war hundertmal im Begriffe, sich zu empfehlen, aber Homais hielt ihn immer wieder fest, indem er sagte:

„Gleich! Gleich! Ich gehe ja mit! Wir wollen nun mal in den ‘Leuchtturm von Rouen’! Dem Redakteur guten Tag sagen. Ich mache Sie mit ihm bekannt, mit Herrn Thomassin.“Trotzdem machte sich Leo endlich los und eilte wiederum in den Boulogner Hof. Emma war nicht mehr da. Im höchsten Grade aufgebrach­t, war sie fortgegang­en. Jetzt haßte sie Leo.

Das Stelldiche­in zu versäumen, das faßte sie als Beschimpfu­ng auf! Nun suchte sie nach noch andern Gründen, mit ihm zu brechen. Er sei eines höheren Aufschwung­s unfähig, schwach, banal, feminin, dazu knickerig und kleinmütig.

Dann wurde sie ruhiger; sie sah ein, daß sie ihn schlechter machte, als er war.

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