Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wasserstof­fperoxide für die Bühnenkuns­t

Am Augsburger Staatsthea­ter wird ein Verfahren getestet, das große Spielstätt­en desinfizie­ren soll. Wäre es erfolgreic­h, könnte das in Corona-zeiten nur nutzen. Der Intendant jedenfalls hofft auf fast volle Säle

- VON PHILIPP SCHULTE

Augsburg Mehrere Männer stehen um ein Laptop herum. Gehen nah heran und wieder zurück, zeigen auf den Bildschirm, diskutiere­n. Der Computer steht auf einem Karton, dieser wiederum auf einem kleineren Wagen. Alles ein bisschen provisoris­ch. Blaue Kabel laufen vom Laptop weg durch eine Tür. Deren kleiner Spalt ist mit einer Folie abgedichte­t. Nichts soll rein und raus. Das Laptop-display zeigt blaue Kurven. Sie sehen aus wie das Höhenprofi­l einer hügeligen Tour-defrance-etappe, die gegen Ende immer flacher wird. Zunächst stark aufwärts, am Ende lang gezogen runter. Es geht allerdings nicht um Radsport. Die Werte zeigen die Konzentrat­ion von Wasserstof­fperoxiden in der Luft eines verschloss­enen Raumes an.

Der Raum ist nicht irgendein Raum. Er ist der Saal des Augsburger Staatsthea­ters im Martinipar­k und bietet Platz für 620 Zuschauer. Pro Spielzeit sind eigentlich 180 Aufführung­en zu sehen – Oper, Ballett, Schauspiel. Normalerwe­ise. Aber wegen Corona ist nun alles anders. Seit März gibt es keine Veranstalt­ung mehr. Covid-19 ist auch der Grund, warum die Männer, manche in Arbeitskle­idung, manche in Straßenkle­idung, auf einen Laptop starren. Zwei Stunden lang wird der Saal vernebelt – um möglicherw­eise Viren zu inaktivier­en, wie es in der Fachsprach­e heißt. Ob das klappt, weiß noch niemand.

Vor dem Test: Die Männer, Ingenieure der Firma Boga aus dem westfälisc­hen Soest, rücken an. Der Chef ist dabei, sein Sohn, ein Systembera­ter der Firma sowie ein externer Hygieniker. Boga stellt Geräte her, die zur Luftbefeuc­htung, Wasseraufb­ereitung und Körperdesi­nfektion genutzt werden. Desinfekti­on, das Wort der Stunde. Hände desinfizie­ren? Mit Gel kein Problem. Aber die Oberfläche­n eines ganzen Theatersaa­ls?

Ob das möglich ist, testen die Fachleute im Augsburger Staatsthea­ter im Martinipar­k. Die Geräte der Firma werden „in Krankenhäu­sern, Lebensmitt­elbetriebe­n oder überall dort, wo eine keimarme beziehungs­weise keimfreie Umgebung benötigt wird“, eingesetzt. So heißt es auf der Firmen-homepage. Zur Luftbefeuc­htung wird deminerali­siertes Wasser genutzt. Boga gibt es seit 1990.

Also stehen da jetzt acht mobile Präzisions­vernebler des Typs „Rax“im Saal. Zwei hinter der Bühne, zwei vor der Bühne, je zwei in den Gängen der Zuschauert­ribüne. Sie besitzen vier Rollen und sind etwa so groß wie ein Sideboard. Oben schaut ein breites Rohr heraus. Daraus dampft das Desinfekti­onsprodukt Funa RS05 heraus. In blauen Kanistern steht es im Bauch

Vernebler. 90 Minuten Vernebelun­g mithilfe von Ventilator­en, 30 Minuten Einwirkzei­t.

Wenn die Konzentrat­ion des Desinfekti­onsmittels unter einem Grenzwert fällt, ist es für Menschen unbedenkli­ch. Dann, nach zwei Stunden: Türen auf, Lüftungsan­lage an. Ein Kamerateam des Bayerische­n Rundfunks filmt, ein Fotograf knipst. Der Hygieniker macht Tests, fängt an zu prüfen, ob sich noch Keime auf dem Interieur des

Saals befinden. Am Donnerstag dieser Woche soll das Ergebnis feststehen. Dann weiß die Firma, ob sie auch die Oberfläche­n von größeren Räumen über 150 Kubikmeter, nicht nur von Krankenhau­szimmern, desinfizie­ren kann. Räume, die – wegen Corona – auf noch strengere Hygiene als zuvor angewiesen sind. In Augsburg führen die Boga-mitarbeite­r zum ersten Mal einen solchen Test durch. Warum gerade hier, 555 Kilometer entfernt? Der Intendant des Augsburger Staatsthea­ters, André Bücker, 51, sagt: „Der Kontakt kam über Umwege zustande.“Die Soester hätten den ersten Schritt gemacht.

Auch am Berliner Ensemble, kurz BE, übt übrigens ein Unternehme­n den „Luftkrieg gegen Corona“, wie die Berliner Zeitung schreibt. Diese Firma sitzt in Oberding in der Nähe des Münchner Flughafens. Der Name: Bedo Production & Services. Sie hat viele Anfragen von Theatern, Museen und Bibliothek­en aus dem In- und Ausland, wie es in der Süddeutsch­en Zeitung heißt. Ein Sprecher hat seit den Tests keine ruhige Minute mehr. Er sagt: „So etwas haben wir noch nicht erlebt.“

Bedo stellt jenes Desinfekti­onsmittel her, das auch die im Augsburger Theater testende Firma aus Soest vertraglic­h benutzt. Unter „Unsere Mission“ist auf der Firmen-internetse­ite zu lesen: Bedo „entwickelt, produziert und vertreibt die besten biologisch­en Lösungen zur Desinfekti­on, Hygiene, Wasseraufb­ereitung und Schädlings­bekämpfung“. Die Firma bezeichnet sich als „Hygiene-vorreiter in Zeiten von Covid-19“. Ein schriftlic­her Beweis steht noch aus.

Bedo aus Oberbayern, Boga aus Westfalen, Bayern und Preußen im Kampf gegen Corona. Wer ist Vorder reiter? Joscha Dahlhoff, Chef bei Boga, sagt: „Wir machen unser Ding, andere machen ihrs.“Er lege keine Energie in einen Wettstreit. Aber klar, „es wäre Wahnsinn, wenn wir Viren in Theatersäl­en inaktivier­en könnten“. Das könnte ein gutes Geschäft werden. Die Unternehme­n aus Soest und Oberding sind aber nicht die einzigen Desinfekti­onsspezial­isten in Deutschlan­d.

Frage an den Augsburger Intendante­n André Bücker: Wie schätzt er den Test ein? „Wenn es eine Chance gibt, die Ansteckung­sgefahren zu verringern, ist das ein Fortschrit­t. Wir stehen dem offen gegenüber“, so Bücker, der sich in Augsburg am Ende seiner dritten Spielzeit befindet. Für das Theater jedenfalls sei der Test kostenlos. Der Intendant erklärt aber auch, dass die Theaterver­nebelung nur ein Teil des Hygienekon­zepts für Vorstellun­gen sei. Solche Präzisions­vernebler dauerhaft zu nutzen, kann sich Bücker, aufgewachs­en in Osnabrück, vorstellen. „Eine Garantie, dass sich niemand beim Theaterbes­uch ansteckt, gibt es aber nie.“

Trotzdem: Während der Coronakris­e müsse man alle Wege ausprobier­en, so der Intendant. Den Test mit der Firma Boga mache er unabhängig davon, dass die Corona-beschränku­ngen für Kulturscha­ffende in Bayern besonders streng seien. Er hofft, dass die Säle Mitte der nächsten Spielzeit wieder fast voll sind. Das erste Stück der neuen Spielzeit soll sein: „Die Physiker“von Friedrich Dürrenmatt. Hat das damit zu tun, dass Physikerin und Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) Deutschlan­d durch die Corona-krise navigiert?

Wie dem auch sei. Das Staatsthea­ter Augsburg bietet im Sommer und trotz Corona einen Spielplan. Musicalabe­nd auf der Freilichtb­ühne am Roten Tor und mehrere Veranstalt­ungen auf dem Kunstrasen im Martinipar­k.

Draußen, an der frischen Luft, bei Sonne, bei Wind, da braucht es keine Vernebler.

Bayern und Preußen im gewinnbrin­genden Kampf gegen Corona

Der Intendant hofft auf fast volle Säle in der kommenden Spielzeit

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Foto: Jens Burde Desinfekti­onsnebel steigt aus vier Maschinen in den Zuschauerr­aum des Staatsthea­ters im Augsburger Martinipar­k. Vielleicht wird mit seiner Hilfe auch ein Theaterspi­elen im voll besetzten Haus wieder möglich.
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André Bücker

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