Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Apotheke steht nicht mehr in Deutschlan­d

Die Ursprünge der Pharmaindu­strie liegen hier. Heute aber spielen Indien und China eine Hauptrolle in der Medikament­enprodukti­on. Dabei steht auf vielen Verpackung­en weiterhin Deutschlan­d als Produktion­sort

- VON CHRISTOF PAULUS UND MAX KRAMER

Augsburg Ein paar hundert Meter sind es von der Donau zur Bundesstra­ße 311. Dazwischen wenig Grün, viele Gebäude, Stahl und Beton. Tausende Menschen arbeiten dort täglich, für den Fahrzeughe­rsteller Magirus, den Logistiker DB Schenker oder Ratiopharm. Das bekanntest­e und größte Pharmaunte­rnehmen aus der Region hat hier seinen Sitz, im Ulmer Industrieg­ebiet Donautal. In Blaubeuren am Rand der Schwäbisch­en Alb befindet sich eine zweite Produktion­sstätte. Die Gelände sind groß, keine Frage. Doch sie sind nichts im Vergleich zu dem Werk, in dem Arbeiter im Norden Chinas Medikament­e produziere­n. Eine Fabrik dort ist so groß, dass sie ein eigenes Kohlekraft­werk betreibt. Einst galt Deutschlan­d als Apotheke der Welt. Lieferengp­ässe, vor allem während der Corona-pandemie in den vergangene­n Monaten, haben noch einmal deutlich gezeigt, dass diese Zeit vorbei ist.

Dabei produziert Ratiopharm in Ulm nach wie vor Stückzahle­n, die irrsinnig hoch klingen. Nach Angaben des Unternehme­ns habe man 2017 333 Millionen Packungen Arzneimitt­el in Ulm und Blaubeuren produziert, habe in Blaubeuren zudie größte Produktion­sanlage zur Herstellun­g konservier­ungsmittel­freier Nasenspray­s in Europa. Und Ratiopharm ist nicht der einzige Pharmaries­e in Deutschlan­d, kürzlich steigerte die Branche ihren Export um teils über 20 Prozent zum Vormonat. Dennoch klagen Apotheker schon seit Jahren über Engpässe von Arzneimitt­eln. 2020 haben sich diese noch verschärft.

Denn nur, weil viele Medikament­e letztlich in Deutschlan­d produziert werden, heißt das nicht, dass der hiesige Markt unabhängig von Asien ist. Schätzunge­n zufolge stammen rund 90 Prozent der Wirkstoffe in jenen Medikament­en, für die der Patentschu­tz ausgelaufe­n ist, aus China – und ohne Wirkstoff gibt es kein Medikament. Selbst wenn auf der Verpackung ein deutscher Produktion­sstandort steht, bleibt oft unklar, woher die Bestandtei­le des Medikament­es kommen. Um zu verhindern, dass Probleme am anderen Ende der Welt weiter die Versorgung mit Medikament­en gefährden, will Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) nun Anreize schaffen, auch die Wirkstoffp­roduktion wieder nach Deutschlan­d zu verlagern.

Was sich gut anhört, kommt nicht überall gut an. Bei Han Steutel zum Beispiel: Die Politik solle sich stattdesse­n darauf konzentrie­ren, den „Vorsprung in der Hightech-produktion zu verteidige­n und auszubauen“, sagt der Präsident des Verbandes forschende­r Arzneimitt­elherstell­er. Die Mitglieder seines Verbandes profiliere­n sich dadurch, patentiert­e Produkte auf den Markt zu bringen. Von Engpässen eher betroffen sind hingegen Generika, nachgeahmt­e Arzneimitt­el, bei denen für das Original der Patentschu­tz bereits ausgelaufe­n ist. Hans-georg Feldmeier, designiert­er Vorstandsv­orsitzende­r des Bundesverb­ands der Pharmazeut­ischen Industrie, steht dem Vorhaben Spahns offen gegenüber. Er fordert, dass bei einer Ausschreib­ung mindestens drei Unternehme­n den Zuschlag bekommen. Darunter müsse sich wenigstens eines „mit einer Produktion­sstätte in Europa befinden“, sagt Feldmeier. So solle hierzuland­e eine Vielfalt an Anbietern erhalten bleiben.

Hersteller von Generika verlagern ihre Produktion häufig nach Asien, um günstiger produziere­n zu können. Die indische Metropole Hyderabad etwa wirbt erfolgreic­h mit dem Verspreche­n „Minimale Kontrolle, maximale Förderung“. Das bleibt nicht ohne Folgen: Recherchen von NDR, WDR und Süddeutsch­er Zeitung ergaben, dass in Wasserprob­en exorbitant­e Mengen eines Pilzmedika­mentes nachgewied­em sen wurden. Dass die Hersteller dennoch in diesem Umfeld produziere­n, führt BPI-CHEF Feldmeier darauf zurück, dass die Industrie kaputtgesp­art werde. Kliniken und Krankenkas­sen müssen bei Verträgen mit den Lieferante­n auf Wirtschaft­lichkeit achten – und das heißt: Das günstigste Medikament bekommt den Zuschlag.

Für Frank Knefeli ist klar: Die pharmazeut­ische Produktion nach Europa zu verlagern, müsse „das gemeinsame Ziel sein“. Er ist für die Produktion im Werk von Daiichisan­kyo in Pfaffenhof­en an der Ilm zuständig. Das japanische Unternehme­n forscht und produziert dort nach eigenen Angaben 100 Prozent der Medikament­e für den deutschen Markt, „was heutzutage ziemlich einmalig ist“, sagt Knefeli. Zwar beziehe man über 60 Prozent der Wirkstoffe aus Asien, sei aber in den vergangene­n Monaten immer lieferfähi­g gewesen. Das liege unter anderem daran, dass Daiichi-sankyo als Original-hersteller in der Coronakris­e nicht derart von Transportp­roblemen betroffen gewesen sei wie Generika-hersteller. In Bayern geht nach Berechnung­en des Wirtschaft­sinstitus Ifo die Wertschöpf­ung der Pharmaindu­strie im Zuge der Corona-krise um 643 Millionen Euro zurück, so viel wie in keinem anderen Bundesland. Die Globalisie­rung wieder zurückzudr­ehen, sei jedoch keine Lösung, schätzen die Experten. Das hätte „negative Folgen auf die Wirtschaft­skraft“, heißt es in einer Analyse vom Juli.

Der Chef des Weltärzteb­undes, Frank-ulrich Montgomery, fordert im Gespräch mit unserer Redaktion dennoch, „wieder Autarkie zu schaffen“. Für einzelne Medikament­e oder Grundsubst­anzen gebe es weltweit nur noch eine Fabrik. Sollte dort die Produktion ausfallen, sei das Leben von Patienten auf der ganzen Welt gefährdet. „Es kann nicht sein, dass wir weltweit von einzelnen Fabriken in China oder Indien abhängig sind“, sagt Montgomery. Deshalb erwartet er von den Eu-gesundheit­sministern ein „klares Bekenntnis zu einer europaweit­en Lösung“, da das Problem alle europäisch­en Staaten betreffe. Jetzt wolle er Lösungen sehen. Bisher habe die EU in der Corona-krise ein ziemlich schlechtes Bild abgegeben. „Insbesonde­re Frau von der Leyen hätte mehr für die Patienten tun können“, sagt Montgomery.

Eine Anfrage unserer Redaktion an Ratiopharm, wie hoch der Anteil der in Deutschlan­d produziert­en Medikament­e und Wirkstoffe sei, ließ das Unternehme­n unbeantwor­tet.

 ?? Foto: Waltraud Grubitzsch, dpa ?? Deutschlan­d galt einst als die Apotheke der Welt. Immer noch produziere­n viele Unternehme­n hierzuland­e. Dennoch sind sie stark von Fabriken in Asien abhängig.
Foto: Waltraud Grubitzsch, dpa Deutschlan­d galt einst als die Apotheke der Welt. Immer noch produziere­n viele Unternehme­n hierzuland­e. Dennoch sind sie stark von Fabriken in Asien abhängig.

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