Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Die Apotheke steht nicht mehr in Deutschland
Die Ursprünge der Pharmaindustrie liegen hier. Heute aber spielen Indien und China eine Hauptrolle in der Medikamentenproduktion. Dabei steht auf vielen Verpackungen weiterhin Deutschland als Produktionsort
Augsburg Ein paar hundert Meter sind es von der Donau zur Bundesstraße 311. Dazwischen wenig Grün, viele Gebäude, Stahl und Beton. Tausende Menschen arbeiten dort täglich, für den Fahrzeughersteller Magirus, den Logistiker DB Schenker oder Ratiopharm. Das bekannteste und größte Pharmaunternehmen aus der Region hat hier seinen Sitz, im Ulmer Industriegebiet Donautal. In Blaubeuren am Rand der Schwäbischen Alb befindet sich eine zweite Produktionsstätte. Die Gelände sind groß, keine Frage. Doch sie sind nichts im Vergleich zu dem Werk, in dem Arbeiter im Norden Chinas Medikamente produzieren. Eine Fabrik dort ist so groß, dass sie ein eigenes Kohlekraftwerk betreibt. Einst galt Deutschland als Apotheke der Welt. Lieferengpässe, vor allem während der Corona-pandemie in den vergangenen Monaten, haben noch einmal deutlich gezeigt, dass diese Zeit vorbei ist.
Dabei produziert Ratiopharm in Ulm nach wie vor Stückzahlen, die irrsinnig hoch klingen. Nach Angaben des Unternehmens habe man 2017 333 Millionen Packungen Arzneimittel in Ulm und Blaubeuren produziert, habe in Blaubeuren zudie größte Produktionsanlage zur Herstellung konservierungsmittelfreier Nasensprays in Europa. Und Ratiopharm ist nicht der einzige Pharmariese in Deutschland, kürzlich steigerte die Branche ihren Export um teils über 20 Prozent zum Vormonat. Dennoch klagen Apotheker schon seit Jahren über Engpässe von Arzneimitteln. 2020 haben sich diese noch verschärft.
Denn nur, weil viele Medikamente letztlich in Deutschland produziert werden, heißt das nicht, dass der hiesige Markt unabhängig von Asien ist. Schätzungen zufolge stammen rund 90 Prozent der Wirkstoffe in jenen Medikamenten, für die der Patentschutz ausgelaufen ist, aus China – und ohne Wirkstoff gibt es kein Medikament. Selbst wenn auf der Verpackung ein deutscher Produktionsstandort steht, bleibt oft unklar, woher die Bestandteile des Medikamentes kommen. Um zu verhindern, dass Probleme am anderen Ende der Welt weiter die Versorgung mit Medikamenten gefährden, will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nun Anreize schaffen, auch die Wirkstoffproduktion wieder nach Deutschland zu verlagern.
Was sich gut anhört, kommt nicht überall gut an. Bei Han Steutel zum Beispiel: Die Politik solle sich stattdessen darauf konzentrieren, den „Vorsprung in der Hightech-produktion zu verteidigen und auszubauen“, sagt der Präsident des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller. Die Mitglieder seines Verbandes profilieren sich dadurch, patentierte Produkte auf den Markt zu bringen. Von Engpässen eher betroffen sind hingegen Generika, nachgeahmte Arzneimittel, bei denen für das Original der Patentschutz bereits ausgelaufen ist. Hans-georg Feldmeier, designierter Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie, steht dem Vorhaben Spahns offen gegenüber. Er fordert, dass bei einer Ausschreibung mindestens drei Unternehmen den Zuschlag bekommen. Darunter müsse sich wenigstens eines „mit einer Produktionsstätte in Europa befinden“, sagt Feldmeier. So solle hierzulande eine Vielfalt an Anbietern erhalten bleiben.
Hersteller von Generika verlagern ihre Produktion häufig nach Asien, um günstiger produzieren zu können. Die indische Metropole Hyderabad etwa wirbt erfolgreich mit dem Versprechen „Minimale Kontrolle, maximale Förderung“. Das bleibt nicht ohne Folgen: Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung ergaben, dass in Wasserproben exorbitante Mengen eines Pilzmedikamentes nachgewiedem sen wurden. Dass die Hersteller dennoch in diesem Umfeld produzieren, führt BPI-CHEF Feldmeier darauf zurück, dass die Industrie kaputtgespart werde. Kliniken und Krankenkassen müssen bei Verträgen mit den Lieferanten auf Wirtschaftlichkeit achten – und das heißt: Das günstigste Medikament bekommt den Zuschlag.
Für Frank Knefeli ist klar: Die pharmazeutische Produktion nach Europa zu verlagern, müsse „das gemeinsame Ziel sein“. Er ist für die Produktion im Werk von Daiichisankyo in Pfaffenhofen an der Ilm zuständig. Das japanische Unternehmen forscht und produziert dort nach eigenen Angaben 100 Prozent der Medikamente für den deutschen Markt, „was heutzutage ziemlich einmalig ist“, sagt Knefeli. Zwar beziehe man über 60 Prozent der Wirkstoffe aus Asien, sei aber in den vergangenen Monaten immer lieferfähig gewesen. Das liege unter anderem daran, dass Daiichi-sankyo als Original-hersteller in der Coronakrise nicht derart von Transportproblemen betroffen gewesen sei wie Generika-hersteller. In Bayern geht nach Berechnungen des Wirtschaftsinstitus Ifo die Wertschöpfung der Pharmaindustrie im Zuge der Corona-krise um 643 Millionen Euro zurück, so viel wie in keinem anderen Bundesland. Die Globalisierung wieder zurückzudrehen, sei jedoch keine Lösung, schätzen die Experten. Das hätte „negative Folgen auf die Wirtschaftskraft“, heißt es in einer Analyse vom Juli.
Der Chef des Weltärztebundes, Frank-ulrich Montgomery, fordert im Gespräch mit unserer Redaktion dennoch, „wieder Autarkie zu schaffen“. Für einzelne Medikamente oder Grundsubstanzen gebe es weltweit nur noch eine Fabrik. Sollte dort die Produktion ausfallen, sei das Leben von Patienten auf der ganzen Welt gefährdet. „Es kann nicht sein, dass wir weltweit von einzelnen Fabriken in China oder Indien abhängig sind“, sagt Montgomery. Deshalb erwartet er von den Eu-gesundheitsministern ein „klares Bekenntnis zu einer europaweiten Lösung“, da das Problem alle europäischen Staaten betreffe. Jetzt wolle er Lösungen sehen. Bisher habe die EU in der Corona-krise ein ziemlich schlechtes Bild abgegeben. „Insbesondere Frau von der Leyen hätte mehr für die Patienten tun können“, sagt Montgomery.
Eine Anfrage unserer Redaktion an Ratiopharm, wie hoch der Anteil der in Deutschland produzierten Medikamente und Wirkstoffe sei, ließ das Unternehmen unbeantwortet.