Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Roth: Yücel-urteil muss Folgen haben
Die Grünen-politikerin fordert, die deutsche Politik müsse aufhören, den „Autokraten vom Bosporus“zu hofieren. Der verurteilte Journalist hat zwei neue Verfahren am Hals
Istanbul/berlin Claudia Roth ist entsetzt: „Die Reste der Pressefreiheit sitzen vollends hinter Gittern, jede legitime Kritik wird kriminalisiert, die Meinungsfreiheit ist inhaftiert, demokratische Rechte werden mit Füßen getreten.“Nach dem Urteil des Istanbuler Schwurgerichts gegen den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel fordert die Vizebundestagspräsidentin Konsequenzen. „Mit der Hofierung des Autokraten vom Bosporus muss ein für alle Mal Schluss sein“, sagt die Grünen-politikerin unserer Redaktion. Von Bundeskanzlerin und Außenminister fordert sie eindeutige Worte: „Merkel und Maas sollten dieses Urteil klar und scharf verurteilen und mit dem gebotenen politischen und wirtschaftlichen Druck rote Linien in der Zusammenarbeit mit der Türkei aufzeigen.“
Ein Gericht in Istanbul hatte zuvor den Welt-journalisten Deniz Yücel wegen Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu fast zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Vom Vorwurf der Volksverhetzung und der Propaganda für die Gülen-bewegung ist er freigesprochen worden. Die Justiz lässt aber nicht locker: Die Strafkammer wies die Staatsanwaltschaft an, gegen Yücel auch wegen Verdachts auf Präsidentenbeleidigung und Beleidigung des Türkentums zu ermitteln. Sein Verteidiger Veysel Ok will Einspruch einlegen. Mit bitterer Ironie reagierte Ok auf die Tatsache, dass Yücel mit dem Berufungsverfahren und den neuen Ermittlungsakten ab sofort mehr Strafverfahren am Hals hat als zuvor: „Aus eins mach drei“, sagte der Anwalt unserer Redaktion.
Damit bleibt Deniz Yücel ein Thema für die ohnehin problembeladenen türkisch-deutschen Beziehungen. Der damalige Türkeikorrespondent der Welt war Anfang 2017 festgenommen worden und saß ein Jahr ohne Anklage in einem Hochsicherheitsgefängnis in U-haft, bevor er auf Druck der Bundesregierung nach Deutschland heimkehren durfte. Der Prozess fand in Abwesenheit des Angeklagten statt. Die Staatsanwaltschaft warf Yücel wegen seiner journalistischen Arbeit Propaganda für die kurdische Terrororganisation PKK und Volksverhetzung vor. Ein weiterer Vorwurf, Yücel habe auch die Organisation des Predigers Fethullah Gülen unterstützt, wurde fallengelassen. Volksverhetzung wollte das Gericht ebenfalls nicht erkennen und verurteilte den Journalisten wegen Terrorpropaganda zu zwei Jahren, neun Monaten und 22 Tagen Haft. Die Richter blieben deutlich unter der Strafforderung der Anklage, die 15 Jahre Gefängnis verlangt hatte. Doch als Signal für eine Wiederannäherung an Deutschland ist das Urteil trotzdem nicht zu werten, nachdem das Gericht neue Vorwürfe gegen Yücel aus dem Hut zog: In einem Beitrag Yücels für die Welt am Sonntag im Jahr 2016 wollen die Richter eine Beleidigung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erkannt haben. Der Artikel trug den Titel „Der Putschist“und befasste sich mit der Verfolgung von Regierungsgegnern nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016. Auch Yücels Verteidigungsschrift, in der er von Folter während der Inhaftierung berichtete, enthält nach Meinung des Gerichts strafwürdige Beleidigungen gegen den türkischen Staat.
Obwohl die Justiz unter der Kontrolle der Regierung steht, werden selten Äußerungen von Angeklagten vor Gericht als Anlass für neue Strafverfahren benutzt. Yücel kommentiert daher, mit einem Freispruch hätten sich die Richter gegen Erdogan gestellt, der ihn als „Agenten-terroristen“vorverurteilt habe. Nun hätten die Richter dem Verfassungsgericht widersprochen, der seine Inhaftierung als illegal beanstandet habe. „So oder so musste sich der türkische Staat heute blamieren. Das hat er auch“, schrieb Yücel. Dass die Richter lieber das Verfassungsgericht bloßgestellt hätten als den Staatspräsidenten, zeige einmal mehr, wie es um die Rechtsstaatlichkeit in diesem Land bestellt ist: „Erbärmlich.“
Medienorganisationen und Menschenrechtsgruppen kritisierten das Urteil als Beweis dafür, dass die Justiz politischen Weisungen unterliege. „Die türkische Justiz hat nichts mehr mit europäischen Normen zu tun“, sagte Erol Önderoglu von „Reporter ohne Grenzen“. Yücel habe nirgendwo zur Gewalt aufgerufen und hätte nicht verurteilt werden dürfen.