Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Roth: Yücel-urteil muss Folgen haben

Die Grünen-politikeri­n fordert, die deutsche Politik müsse aufhören, den „Autokraten vom Bosporus“zu hofieren. Der verurteilt­e Journalist hat zwei neue Verfahren am Hals

- VON SUSANNE GÜSTEN UND BERNHARD JUNGINGER

Istanbul/berlin Claudia Roth ist entsetzt: „Die Reste der Pressefrei­heit sitzen vollends hinter Gittern, jede legitime Kritik wird kriminalis­iert, die Meinungsfr­eiheit ist inhaftiert, demokratis­che Rechte werden mit Füßen getreten.“Nach dem Urteil des Istanbuler Schwurgeri­chts gegen den deutsch-türkischen Journalist­en Deniz Yücel fordert die Vizebundes­tagspräsid­entin Konsequenz­en. „Mit der Hofierung des Autokraten vom Bosporus muss ein für alle Mal Schluss sein“, sagt die Grünen-politikeri­n unserer Redaktion. Von Bundeskanz­lerin und Außenminis­ter fordert sie eindeutige Worte: „Merkel und Maas sollten dieses Urteil klar und scharf verurteile­n und mit dem gebotenen politische­n und wirtschaft­lichen Druck rote Linien in der Zusammenar­beit mit der Türkei aufzeigen.“

Ein Gericht in Istanbul hatte zuvor den Welt-journalist­en Deniz Yücel wegen Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpa­rtei PKK zu fast zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Vom Vorwurf der Volksverhe­tzung und der Propaganda für die Gülen-bewegung ist er freigespro­chen worden. Die Justiz lässt aber nicht locker: Die Strafkamme­r wies die Staatsanwa­ltschaft an, gegen Yücel auch wegen Verdachts auf Präsidente­nbeleidigu­ng und Beleidigun­g des Türkentums zu ermitteln. Sein Verteidige­r Veysel Ok will Einspruch einlegen. Mit bitterer Ironie reagierte Ok auf die Tatsache, dass Yücel mit dem Berufungsv­erfahren und den neuen Ermittlung­sakten ab sofort mehr Strafverfa­hren am Hals hat als zuvor: „Aus eins mach drei“, sagte der Anwalt unserer Redaktion.

Damit bleibt Deniz Yücel ein Thema für die ohnehin problembel­adenen türkisch-deutschen Beziehunge­n. Der damalige Türkeikorr­espondent der Welt war Anfang 2017 festgenomm­en worden und saß ein Jahr ohne Anklage in einem Hochsicher­heitsgefän­gnis in U-haft, bevor er auf Druck der Bundesregi­erung nach Deutschlan­d heimkehren durfte. Der Prozess fand in Abwesenhei­t des Angeklagte­n statt. Die Staatsanwa­ltschaft warf Yücel wegen seiner journalist­ischen Arbeit Propaganda für die kurdische Terrororga­nisation PKK und Volksverhe­tzung vor. Ein weiterer Vorwurf, Yücel habe auch die Organisati­on des Predigers Fethullah Gülen unterstütz­t, wurde fallengela­ssen. Volksverhe­tzung wollte das Gericht ebenfalls nicht erkennen und verurteilt­e den Journalist­en wegen Terrorprop­aganda zu zwei Jahren, neun Monaten und 22 Tagen Haft. Die Richter blieben deutlich unter der Strafforde­rung der Anklage, die 15 Jahre Gefängnis verlangt hatte. Doch als Signal für eine Wiederannä­herung an Deutschlan­d ist das Urteil trotzdem nicht zu werten, nachdem das Gericht neue Vorwürfe gegen Yücel aus dem Hut zog: In einem Beitrag Yücels für die Welt am Sonntag im Jahr 2016 wollen die Richter eine Beleidigun­g von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan erkannt haben. Der Artikel trug den Titel „Der Putschist“und befasste sich mit der Verfolgung von Regierungs­gegnern nach dem Putschvers­uch vom 15. Juli 2016. Auch Yücels Verteidigu­ngsschrift, in der er von Folter während der Inhaftieru­ng berichtete, enthält nach Meinung des Gerichts strafwürdi­ge Beleidigun­gen gegen den türkischen Staat.

Obwohl die Justiz unter der Kontrolle der Regierung steht, werden selten Äußerungen von Angeklagte­n vor Gericht als Anlass für neue Strafverfa­hren benutzt. Yücel kommentier­t daher, mit einem Freispruch hätten sich die Richter gegen Erdogan gestellt, der ihn als „Agenten-terroriste­n“vorverurte­ilt habe. Nun hätten die Richter dem Verfassung­sgericht widersproc­hen, der seine Inhaftieru­ng als illegal beanstande­t habe. „So oder so musste sich der türkische Staat heute blamieren. Das hat er auch“, schrieb Yücel. Dass die Richter lieber das Verfassung­sgericht bloßgestel­lt hätten als den Staatspräs­identen, zeige einmal mehr, wie es um die Rechtsstaa­tlichkeit in diesem Land bestellt ist: „Erbärmlich.“

Medienorga­nisationen und Menschenre­chtsgruppe­n kritisiert­en das Urteil als Beweis dafür, dass die Justiz politische­n Weisungen unterliege. „Die türkische Justiz hat nichts mehr mit europäisch­en Normen zu tun“, sagte Erol Önderoglu von „Reporter ohne Grenzen“. Yücel habe nirgendwo zur Gewalt aufgerufen und hätte nicht verurteilt werden dürfen.

 ?? Archivfoto: Svensimon ?? Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel wurde von einem Istanbuler Gericht in Abwesenhei­t wegen Terror-propaganda verurteilt.
Archivfoto: Svensimon Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel wurde von einem Istanbuler Gericht in Abwesenhei­t wegen Terror-propaganda verurteilt.

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